Originalgestank der Menschheit

Dilip Chitre setzt sein "BombayQuartett" virtuos in Szene

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Familienvater, besessen von einem magischen blauen Saphir, fordert das Schicksal heraus. Ein schizophrener Kloakenreiniger, "kastenlos und kackeverschmiert", hält Gericht über die Welt. Eine alternde Jungfer rebelliert gegen die überkommene Rolle der Frau in Indien und fasst einen theatralischen Plan, um als Mann wiedergeboren zu werden. Und ein indischer Unamuno, der von seiner eigenen, nebulösen Romanfigur heimgesucht wird, verfällt dem literarischen Wahn und nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Reise ins Innere der Phantasie.

Die vier Erzählungen des "BombayQuartetts", dem neuen Buch des indischen Schriftstellers, Filmemachers und Malers Dilip Chitre, sind vielleicht das ungewöhnlichste Stück Literatur dieses Bücherjahres. Wer berauscht war von dem farbenprächtig-versöhnlichen Hochglanzindien der Filmproduktion "Monsoon Wedding", bekommt von Chitre das subtile, trotzige Gegenstück: ein widersprüchliches und absurd-komisches Indien, das mythisches Paradies und postmoderner Augiasstall zugleich ist.

In Mira Nairs Erfolgsfilm wird am Ende alles gut, weil die Familie zusammenhält. Die Hochzeit von Tradition und Moderne scheint gelungen, die Tücken der Globalisierung weniger problematisch als befürchtet. Die Helden in Chitres Geschichten hingegen sind Einzelgänger trotz Familie: Don Quijote-Figuren aus der indischen Mittelschicht mit sympathisch adoleszenten Träumen. Postkoloniale Glücksritter von tragikomischer Gestalt und existenziell Heimatlose, die in den Filialen amerikanischer Multikonzerne arbeiten und überwältigt vom importierten Lebensgefühl aus dem Westen am Hergebrachten zweifeln.

"Sobald jemand 'unausweichlich' sagt, bekomme ich eine Gänsehaut", begehrt der Ich-Erzähler in "Saphir" gegen die Jahrtausende alte Hindu-Lehre vom Kreislauf der Zeit und der Wiedergeburten auf, "ich kann die Idee des vorbestimmten Schicksals nicht ertragen." Chitre überprüft hier auf amüsante Weise, ob die "Bhagavadgita"-Lektion von den verführerischen und trügerischen Erscheinungsformen der Dinge bei den Enkeln von Gandhi und Coca-Cola mehr als ein müdes Lächeln hervorruft und spielt für den heimischen Leser mit der rituellen Bedeutung der Farbe Blau. Zugleich sind die geheimnisvoll-prophetischen Träume und Verwicklungen, die der tiefblaue, Glückseligkeit verheißende Saphir auslöst, eine köstliche Parodie auf die romantische Chiffre schlechthin: die blaue Blume des Novalis.

Die zentrale Forderung der deutschen Romantik nach einer neuen Mythologie war eng verknüpft mit den Sanskritstudien der Gebrüder Schlegel und der allgemeinen Begeisterung der romantischen Salons für die orientalische Bilderschrift, deren ungebrochene und vitale Faszination Chitre virtuos vor Augen führt. Märchenmotive und göttliche Offenbarung, in den Text integrierte Gedichte und Lieder, die gegenseitige Befruchtung von Kunst und Wissenschaft, Ornament und Philosophie: Chitre gelingt in seinen Geschichten ein Stück moderner "Universalpoesie", wie sie Friedrich Schlegel einst in den "Athenäums"-Fragmenten für die europäische Kultur gefordert hatte.

Chitre verbrachte den Großteil seines Lebens in der 15-Millionen-Metropole Bombay, einer Hafenstadt, in der die indische Tradition von jeher okzidentale und islamische Kultur aufnahm. Der 1938 in Baroda geborene Autor, der in Marathi, eine der über 20 Literatursprachen Indiens, und in Englisch schreibt, schöpft aus der überreichen Bilderwelt der indischen Mythen, mischt diese gekonnt mit abendländischer und arabischer Ästhetik und schafft so seinen ganz speziellen, antirealistischen Blick auf die soziale Wirklichkeit seiner Heimat.

"Vollmond im Winter" bietet eine famose literarische Reflexion über die anhaltende Benachteiligung der Frau, nicht nur in der indischen Gesellschaft. Aufgebaut ist die Erzählung, die Betroffenheitsgestus und plakative Anklage engagierter Literatur mit schwarzem Humor konterkariert, wie ein klassisches Drama: Exposition, Konflikt, Höhepunkt, fallende Handlung, Katastrophe. Drei Männer und eine Frau, allesamt Intellektuelle, diskutieren im luxuriösen Appartement des schriftstellernden Erzählers das Verhältnis der Geschlechter. Die 50-jährige Lalita Honavar will in ihrem nächsten Leben unbedingt als Mann auf die Welt kommen, die patriarchalische Ordnung des Subkontinents hat ihr Leben zu einer einzigen Qual gemacht. Ihre ersehnte Wiedergeburt erhofft die Frau, die zuvor noch mit allen anwesenden Männern schlafen will, denn als Unverheiratete waren ihr in Indien sexuelle Kontakte verwehrt, mit einem Sprung vom Balkon zu beschleunigen. Den alkoholisierten Machos wird sie zugleich, Rache ist süß, schwerwiegende Probleme mit der Polizei bescheren.

Religiöse Hindu-Fanatiker sind Chitre ebenso ein Greuel wie die ökonomiegesteuerten Begehrlichkeiten der Globalisierungsjünger, die von einem hochentwickelten Indien der Zukunft träumen - freilich nach westlichen Maßstäben: "Wenn die Menschen in Indien richtig fließend Englisch sprechen werden. Wenn sie in einem Dutzend verschiedener Fernsehkanäle farbenfrohe Werbespots sehen werden. Wenn sogar einheimische Schriftsteller aus Kandesh Bücher auf Englisch schreiben und dem Nobelpreis entgegenharren. Wenn die indische Kultur einfach, leicht verdaulich, verbessert und benutzerfreundlich sein wird." Die im Westen so erfolgreiche anglo-indische Literatur ist für Chitre, der bereits zweimal den indischen Nationalpreis für Literatur erhielt, eine unter vielen Literaturen Indiens, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Schade, nebenbei gesagt, dass die Übertragung des in Marathi geschrieben Buches den zumindest philologisch problematischen Umweg über das Englische nehmen musste.

In der abstrus-unheimlichen Erzählung "Rudhiraksha" demonstriert Chitre sein poetologisches Credo - nicht frei von herber Selbstironie: "Abflussreinigen ist dichterisches Schaffen", wiederholt der fieberträumende, von der Gesellschaft ausgestoßenen Abwasserfischer und Nietzscheleser Rudhiraksha leitmotivisch. "Aus dem Abwasser die vielfältige Fülle des Lebens vor dem inneren Auge noch einmal neu entstehen lassen. Sich von Ausscheidungen aus kontinuierlich auf das Brahmasuta zubewegen." Ätzende, wenig wohlriechende Gesellschaftskritik mit hohem dichterischen Risiko.

Mulk Raj Anands berühmter Roman "Der Unberührbare", ein wenig "Zarathustra" und Céline sowie de Sades "Philosophie im Boudoir" haben Pate gestanden, wenn der kastenlose Kloakenreiniger den "Originalgestank der Menschheit" sucht und von erotischen Phantasien geplagt wird. Die anrüchige Geschichte wird nicht jedermanns Geschmack treffen, einige Leser werden die Nase rümpfen. Chitres in allen Erzählungen perfekt inszenierte, hochintensive Verbindung von poetisch sublimierter Sozialstudie und grotesk-spielerischem Amüsement ist zweifelsohne eine literarische Entdeckung.

Titelbild

Dilip Chitre: BombayQuartett. Stories.
Übersetzt aus dem Englischen von Wieland Grommes.
Heyne Verlag, München 2002.
220 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3927743615

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