Hurraaaaah! Ein Dichter!

Über Alfred Kerrs neu herausgegebene Theaterkritiken und "Berliner Briefe"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über ihn kennt die Literaturgeschichte viele Anekdoten. Eine behauptet, dass Theater den Beginn der Premiere verzögert hätten, so lange er noch nicht an seinem Platz gewesen sei. Freilich wurde Alfred Kerrs Erscheinen auf dem Parkett im Lauf der Zeit zu einer gefeierten oder gefürchteten Selbstinszenierung des meistbewunderten, meistgehassten Literatur- und Theaterkritikers der deutschen Literatur, neben dem die "Literaturpäpste" unserer Zeit zur Bedeutungslosigkeit verblassen würden. Schenkt man seinem Intimfeind Herbert Jhering Glauben - beide trugen in der Weimarer Republik einen regelrechten Kritikerkrieg aus -, scheute sich Kerr auf dem Höhepunkt seiner Macht nicht einmal davor, eine ihm missliebige Inszenierung gezielt zu sabotieren: "Um Brechts Frühwerk 'Baal' wurde gestern mittag im Deutschen Theater nicht etwa gekämpft, sondern vorbereiteter Skandal gemacht. Indirekt ermutigt durch die Kritiken des Herrn Kerr [...]. Es gab einst eine Kritik, die das Publikum zu führen suchte. Heute stellt sie sich unter das Publikum. [...] Beim 'Baal' machte Herr Kerr sogar einige geglückte Versuche, höchst persönlich durch provozierendes Lachen und Reden die Vorstellung zu stören."

In Kerrs tags darauf im "Berliner Tageblatt" erschienener Rezension liest sich das freilich ein wenig anders: "I. / Ein matter Vormittag. ('Tödlich graute mir der Morgen', beginnt ein Lied von Hugo Wolf.) / Als im letzten Bild jemand Herrn Baal zurief: 'Wer interessiert sich für dich!' stimmte das Haus mit Gelächter bei. / Jemand sagt Baals Ende vorher. Im Hause: Bravo." Der Verriss endet lakonisch mit: "VII. / Tödlich graute mir der Morgen."

Die Bedeutung Kerrs gerade für die jüngere, dem Expressionismus nahestehende Autorengeneration hat Rudolf Kayser 1928 auf eindrucksvolle Weise beschrieben: "Alfred Kerrs Bedeutung, wie wir sie damals sahen, hieß kurz: Erlösung der Kritik aus akademischer Trockenheit; fröhliche Wissenschaft im Sinne Friedrich Nietzsches; begeisternde Bejahung des Daseins und vor allem jene neue sprachliche Kunst, in der unser eigener Rhythmus lebendig wird: knapp, geistig, scharf und gesalzen. 'Salz im Ausdruck ist das Pikante, pulverisiert. Es gibt grobkörniges und feines', sagte Friedrich Schlegel. Kerr brachte Salz in den gestuftesten Dosierungen in die zumeist noch fad schmeckende Tages-Kritik. Er fragte nicht nach dem Wert im Sinne einer schulmeisterlichen Ästhetik. Er fragte nicht nach Moral, nach Vollkommenheit, nach Gesetz. Er fragte nach dem Dasein, dem menschlichen und dem künstlerischen, nach Gegenwart und ihrem menschlichen Ausdruck. [...] Alfred Kerrs Revolution der deutschen Kritik war größer, stürmischer und erfolgreicher als je eine andere seit den Tagen der deutschen Romantik."

Über 1.500 Rezensionen verfasste Kerr im Laufe seines ca. fünf Jahrzehnte umfassenden literaturkritischen Wirkens. Er schrieb für zahlreiche Medien. Bekannt wurde er vor allem durch seine Arbeiten für Tageszeitungen: Nach 1901 schrieb er für den Berliner "Tag", und zwar für die "rote" Beilage, die im Unterschied zum "schwarzen" "Tag" als vergleichsweise liberales Organ des Scherl-Konzerns galt. Als die Zeitung 1919 an den rechten Hugenberg-Konzern verkauft wurde, wechselte Kerr zum "Berliner Tageblatt", das im Verlag von Rudolf Mosse erschien, und blieb dort bis 1933. Im Exil schrieb Kerr für das von den Emigranten neu gegründete "Pariser Tageblatt". Nur für kurze Zeit gelang es ihm, sich zurückzuhalten und mit den unter den veränderten Umständen oft nur behelfsmäßig inszenierten Stücken nachsichtiger umzugehen: "Die Emigration dauert lange genug: wir wollen jetzt wieder so urteilen wie zuhause. Wieder so kritisch sein wie anno dunnemals. Wieder auf Leistung sehn, nicht auf die Umstände. Wieder auf das Werk, nicht auf den Dulder."

Bereits zu seinen Lebzeiten erschienen von ihm selbst herausgegebene Sammlungen seiner Kritiken. In den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg versuchten einige mehr oder weniger umfangreiche Auswahlbände, dem ersten "Großkritiker" der deutschen Literatur wieder etwas von seinem einstigen Ruhm zurückzugeben. Seit Anfang der 90er Jahre erscheint nun, Band für Band, wenn auch in verschiedenen Verlagen, eine von Hermann Haarmann und Günther Rühle besorgte Werkausgabe, die maßgeblich für Kerrs Wiederentdeckung gesorgt hat. Mit "So liegt der Fall" liegen die wichtigsten seiner zwischen 1919 und 1933 und im Exil erschienenen Theaterkritiken vor. Zusammen mit dem ersten Band, "Ich sage, was zu sagen ist", der eine Auswahl der zwischen 1893 und 1919 erschienenen Besprechungen enthält, sind damit etwa ein Fünftel seiner Kritiken, sorgfältig ediert und kommentiert, wieder zugänglich gemacht. Neben dem kenntnisreichen Anmerkungsteil gehört es zu den Vorzügen dieser Edition, dass der für beide Bände zuständige Herausgeber Günter Rühle als Textgrundlage auf die in den jeweiligen Tageszeitungen und Zeitschriften erschienenen Originaltexte zurückgegriffen hat und nicht auf die späteren Neudrucke in Kerrs erster Werkausgabe von 1917. Für diese hat Kerr nämlich manches umgeschrieben und gekürzt, hat etwa Partien, die sich aktuell auf die Aufführungen und Schauspieler bezogen, gestrichen.

Dank der Neuedition können heutige Leser problemlos feststellen, wie Recht Kerr mit seiner Behauptung hatte, dass mit ihm die Kritik zur zweckfreien Kunst geworden sei. "Dem Iren [gemeint ist Oscar Wilde] dämmerte zwar, wie mir: Kritik solle Kunst sein; doch ich hab's getan! Ich schuf diese Kritik. Die schärfste Gratkunst." Kerr wusste schon früh: Wer Kritik als Kunst betreiben will, darf nicht nur für das Tagesgeschäft schreiben. Sondern so, dass sich seine Texte, allein aufgrund ihrer sprachlichen Qualität, noch in 100 Jahren mit Genuss lesen lassen - dann, wenn viele der besprochenen Theaterstücke, Texte und Autoren längst vergessen sind: "Wert hat, wie ich glaube, nur Kritik, die in sich ein Kunstwerk gibt: sodaß sie noch auf einen Menschen wirken kann, wenn ihre Inhalte falsch geworden sind (oder der Besprochene verschimmelt ist). Die Kritik, die als eine Dichtungsart anzusehen ist."

Wer Kerrs Texte heute, fern von ihrer tagesaktuellen Referenz, liest, kann sich berauschen an seinem unnachahmlichen Stil, seiner funkensprühenden Sprachlust, dem Feuerwerk an Aperçus und Gedankenblitzen, mit denen er sich über alle Autoren, Regisseure und Schauspieler erhebt und als größter Künstler von allen, als Super-Künstler, als der er sich sah, präsentiert: "Manchmal ist ihr [der Kritiker] Mangel, daß sie so viel höher stehn als abgestempelte Dichter; sich deshalb in deren Gesellschaft ein bißchen langweilen. Sie selber können sich alles viel herrlicher verschaffen: weil sie Worte prägen schöner, singender, tiefer als die sogenannten Verse der andren; weil sie Gestalten auferstehn lassen in fünfzig Zeilen, wessen die andren mit fünf Akten im geringsten nicht fähig sind..."

Es ist die geniale Kombination von einer Vielzahl an rhetorischen und stilistischen Kniffen, mit denen Kerr den heute unverändert gebliebenen Eindruck von Lebendigkeit, Leichtigkeit und purer Sprachlust erzeugt. Zu den wichtigsten Merkmalen seines hochkonzentrierten "Telegrammstiles" - Kerrs Kritik wollte "lieber Extrakt sein als Limonade; lieber mit Blitzlicht arbeiten als mit angereihten Petroleumfunzen" - gehören der Nominalstil, der Hang zur Sentenz und zum Aperçu, Neologismen und Vergleiche, ein parataktischer Satzbau, Ellipsen, eine filmähnliche Montagetechnik, fiktive Dialoge, die Anrede des Lesers, die Anrede des Autors, die Verwendung der bis dahin nicht literaturfähigen Dialekt- und umgangssprachlichen Wörter (z. B. schnoddrige Berlinismen, Plattdeutsch, Wienerisch usw.), die Prägung suggestiver Formeln und die Annäherung der geschriebenen an die gesprochene Rede. Der mit Kerr befreundete Joseph Chapiro rühmte treffend die Nähe der Kerrschen Prosa zur mündlichen Rede: "Über die Langeweile einer Vorlesung berichtet er nicht schriftmäßig, sondern wie er erzählen würde - 'er laas, laaas, laaaaas'. 'Hurrah' schreibt er, wie er es schreit, mit einem donnernden, oftmals widerhallenden, brausenden rah: 'Hurraaaaah!'... Wenn es ihm sauer wird, einen Dichter Dichter zu nennen, fühlt man, wie er stottert, wie er sich bemüht, dies Wort auszusprechen, wie er es kaum über die Lippen bringt: 'Di... Dich... Dichter...'. Er ist in seinem Aufbau Musiker, in seinen Ausdrucksmitteln - Tonsetzer. Einer Musiker gibt Geräusche in der gleichen Weise wieder, wie er sie in seinem Geiste hört. Kerr schreibt die Worte so nieder, wie er sie im gegebenen Fall ausspricht - einmal sanfter, einmal voll Empörung, oder begeistert oder niedergeschmettert oder entsetzt."

Die von der neuen Werkausgabe eingeleitete Renaissance führte auch zur Wiederentdeckung lange verschollener Teile des Kerrschen Werkes, etwa seiner "Berliner Briefe". Zwischen 1895 und 1900 schrieb der junge Theaterkritiker seine wöchentlichen Berichte, Feuilletons, Erlebnisse, Berichte von Ausstellungen und Theaterinszenierungen für die liberale "Breslauer Zeitung" seiner Heimatstadt. Eine Auswahl dieser Berichte, reich illustriert mit Fotos des um 1900 sich rasant verändernden Berlins, ist 1999 im Berliner Aufbau-Verlag erschienen und jetzt als Taschenbuch neu aufgelegt worden. Ob Kerr von der Geburtstagsfeier des Kaisers berichtet, von einem Pressefest im neuen Reichstag, von Spaziergängen auf der Potsdamer Straße oder seinen Streifzügen durch die neu entstehenden Kaufpaläste wie dem Kaufhaus Tietz in der Leipziger Straße - schon der junge Kerr schildert plastisch, witzig und mit Charme: eine großartiges Lese- und Schauvergnügen!

Titelbild

Alfred Kerr: Mein Berlin. Schauplätze einer Metropole.
Manesse Verlag, Berlin 1999.
170 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3351028644

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Alfred Kerr: So liegt der Fall. Theaterkritiken 1919-1933 und im Exil Band VII.2.
Herausgegeben von Günther Rühle.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
960 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 310049511X

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