Eingehende Betrachtungen und eine klare Sprache

Peter Nusser über die deutsche Literatur des Humanismus

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Literaturwissenschaftler Peter Nusser - er lehrte bis 2000 Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin - plant, die deutsche Literaturgeschichte in drei Bänden darzustellen. Der erste Band - er erschien 1992 - befasst sich mit der deutschen Literatur im Mittelalter und vermittelt einen Überblick über Lebensformen, Wertvortstellungen und literarische Entwicklungen in dieser Zeit. Der jetzt herausgekommene Fortsetzungsband setzt mit den Lebensformen und der Literatur der Humanisten ein und berührt die Reformation nur dort, wo die Humanisten auf sie reagiert haben.

Nusser untersucht historische und literarische Prozesse in ihren Wechselbeziehungen, wobei er auch die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Literatur mit berücksichtigt. Wie im ersten Band folgt die textnahe Darstellung der Frage, inwieweit die gedanklichen und künstlerischen Möglichkeiten von Literatur an der Weitergabe und Veränderung bestehender und am Aufbau neuer Wertvorstellungen beteiligt gewesen seien. Der Autor weist darauf hin, dass die Wertvorstellungen vergangener Jahrhunderte in relativ geschlossenen Lebensformen eingebunden gewesen seien, deren Verbindlichkeit sich erst im 19. Jahrhundert verloren habe.

In "Der Ackermann aus Böhmen" des Johann von Tepl, einem Streitgespräch zwischen einem ,klager' und dem Tod, sieht er ein erstes wichtiges Zeugnis des deutschen Frühhumanismus. Immerhin gehörte nicht nur die Form der Disputation in den Rahmen scholastischer Übungen. Auch der Tod, der das Leben jäh beenden konnte, war als Thema des von Hungersnöten und Seuchen gepeinigten Mittelalters allgegenwärtig. Das neue Menschenbild, das Johann von Tepl hier entwirft, berührt sich, laut Nusser, mit dem der italienischen Humanisten, die dem Menschen Autonomie zusprechen und ihn zur Gestaltung seines eigenen Schicksals ermutigen

Obwohl sie an den verschiedensten Orten verstreut waren, bemühten sich die Humanisten doch um einen geistigen Zusammenhalt und bildeten eine Elite. Der entschiedene, unvoreingenommene und neugierige Blick auf die diesseitige Wirklichkeit, die Überzeugung von der Autonomie der Wissenschaften waren das geistige Band, das sie in einer "idealen Republik" zusammenschloss, an welchen Orten sie auch lebten. Ihre wissenschaftlichen Tätigkeiten umfassten Philologie, Geschichtsschreibung, Lehrbetrieb an den Universitäten und naturwissenschaftliche Forschung. Gleichwohl feierten auch noch Aberglaube, Magie, Alchemie, Astrologie und Hermetismus gerade im 16. Jahrhundert Triumphe. Der Autor wertet diese Phänomene als Indiz für die geistige und seelische Verworrenheit, die einen Umbruch der Weltanschauung zu begleiten pflegt. Selbst Johannes Kepler bekleidete das Amt eines kaiserlichen Hofastrologen und Hofmathematicus, während Isaac Newton, der Begründer des Gravitationsgesetzes, sich fast ein Drittel seines Lebens intensiv mit der Alchemie beschäftigte.

Das Idealbild des Dichters wiederum war für die Humanisten der poeta doctus oder poeta eruditus, der gelehrte Dichter, der weder aus göttlicher Inspiration noch aus der eigenen Subjektivität seine Werke schafft, sondern seine Arbeit vornehmlich als Nachahmung bewährter Muster versteht und mit Zitaten und Verweisen spielt.

In die von Nusser unter die Lupe genommene Zeit fällt auch Reuchlins Hebraismus-Streit mit den Kölner Dominikanern, der sogenannte Pfefferkorn-Streit, die Wiedertäuferbewegung, das Auftreten Luthers und des Erasmus von Rotterdam sowie die Rosenkreuzerbewegung.

Die Humanisten hätten sich, behauptet der Literaturwissenschaftler, indem sie sich bewusst und kritisch der Antike näherten, von den Institutionen und dogmatischen Anschauungen des Mittelalters befreit und damit dem Gedanken zum Durchbruch verholfen, dass die eigene Geschichte wählbar sei und gestaltet werden könne.

In der Verknüpfung wissenschaftlicher Leistung mit der Sinnfrage nach dem Nutzen des Erkannten und des Erkennens für die Vervollkommnung, die ,Bildung' des Menschen und für die Verbesserung menschlichen Zusammenlebens liegt, laut Nusser, das humanistische Ethos begründet. Es wirkt bis heute als Widerstand gegen jegliche Form eines technokratischen Dogmatismus.

Weitere Kapitel sind der Lebensform der höfischen Gesellschaft im Zeitalter des Absolutismus und der Literatur des Barock gewidmet, der exemplarischen Betrachtung von Grimmelshausens Simplicissimus, der Lyrik des Barock sowie der Lebensform der staatsbürgerlichen Gesellschaft und der Literatur des 18. Jahrhunderts. Zur bürgerlichen Mentalität des 18. Jahrhunderts gehörte vor allem die Religiosität, während sich die Aufklärung - das gilt vor allem für die deutsche Aufklärung - keineswegs gegen den christlichen Glauben oder die christliche Ethik richtete, sondern in erster Linie gegen die intolerante Dogmatik der Kirchen. Überdies entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine Buchkultur, die nicht mehr nur, wie zuvor, von den akademisch Gebildeten getragen wurde.

Poetik und Ästhetik wurden im 18. Jahrhundert zwar überwiegend von Lessing, Herder, Schiller, Goethe und Gottsched geprägt. Doch nicht nur der aufgeklärte Weimarer Kreis verfolgte idealistische Ziele. Johann Peter Hebel und andere ,Volksaufklärer' bemühten sich ebenfalls um diese Zeit, bei den ,kleinen Leuten' die Voraussetzungen für aufgeklärte ,Mitsprache' zu schaffen.

Titelbild

Peter Nusser: Deutsche Literatur von 1500-1800. Lebensformen, Wertvorstellungen und literarische Entwicklungen.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2002.
511 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3520481014

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