Angst und Seligkeit

Liane Dirks beerdigt ihren Vater

Von Thomas KraftRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kraft

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein karibisches Begräbnisritual umfasst vier Arten, des Verstorbenen zu gedenken. Man möge ihn betrachten, über den Kreislauf von Leben und Tod nachdenken, den Leichnam begraben und dann die Geschichte des Toten erzählen. Für die Erzählerin des dritten Romans von Liane Dirks eröffnet vor allem letzteres die Möglichkeit, sich einer Person anzunähern und am Ende sich ihrer auch zu entledigen, die sie erst in der Romanmitte als "mein Vater" identifiziert. Denn hier wird, wie sich bereits in den ersten Kapiteln andeutet, die Geschichte eines Missbrauchs, einer Kinderschändung, erzählt.

Die Nachricht vom Tod des Vaters führt zur Reise der Erzählerin an die Stätte ihrer Kindheit, nach Barbados, und motiviert gleichzeitig eine biographische Recherche in ein von Genusssucht geprägtes Leben, das in seinen dunklen, hemmungslosen Ausprägungen monströse Energien freilegte. Der Roman setzt ein im Hamburg der zwanziger Jahre mit der Geburt des Vaters Günther Dirks. Seine Mutter hängt der Freikörperkultur an, führt einen Schönheitssalon und wittert das große Geschäft mit Kopfmassagen und "deutschen Düften". Während sich sein Vater saufend in Bordellen herumtreibt, wird der kleine Günther in Mädchenkleider gesteckt und von einem karibischen Kindermädchen großgezogen. Die wilden zwanziger Jahre mit Jazz, Cocktails und Boxkämpfen und der allmähliche Übergang zum Faschismus werden in diesem prallem, atmosphärisch dichten Buch als deutsche Mentalitätsgeschichte und als literarische Folie für ein Leben voller Obsessionen geschildert. Kunstvoll verknüpft die Autorin mit wenigen, pointierten Andeutungen Zeitgeist und Einzelschicksal - Kolonialzeit, Inflation, Kriegsausbruch, Ostfront, Heimkehrerschicksal, Nachkriegszeit.

Getrieben von einer explosiven "Mischung aus Angst und Seligkeit" übersteht Günther, vom Hotelpagen zum Gourmetkoch aufgestiegen, manche Lebenskrise und laviert sich zügellos durch sexuelle Abenteuer. Doch als er am Ende in seinem Sehnsuchtsort landet, im Luxushotel "Marine", das sein Jugendfreund Ludger auf Barbados eröffnet hat, wird das Glück "unerträglich"; seine Unersättlichkeit animiert ihn zu weiteren Schandtaten und führt ihn, den Hochbegabten und doch an den eigenen Triebverfehlungen Gescheiterten, ins Verderben. Selten wurde mit derart sprachlicher Kraft und kühlem Blick dieses heikle, schmerzhafte Thema literarisch so gestaltet, wie es Liane Dirks beispielhaft gelungen ist.

Titelbild

Liane Dirks: Vier Arten meinen Vater zu beerdigen. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
244 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3462030701

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