Wie viel Kontingenz verträgt die Moderne?

Silvio Vietta kartiert die "Ästhetik der Moderne"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Moderne wird immer moderner, und zwar in dem Sinne, dass die moderne Kultur immer unabweisbarer mit sich selbst konfrontiert wird und so immer mehr zu sich selbst kommt. Das Zusichselbstkommen der Moderne bedeutet aber auch, dass diese Kultur fortschreitend an inhaltlicher Bestimmtheit und Selbstsicherheit verliert - man denke an den mitunter widersprüchlichen Gebrauch von Termini wie Postmoderne, "reflexive" (Ulrich Beck) oder "späte" Moderne (Anthony Giddens) - und dass sie ihrer Gründungsideen im Zuge der Verwirklichung ihrer ursprünglichen Bedeutung weitgehend verlustig gegangen ist. Je entschiedener und rücksichtsloser die Moderne sich auf sich selbst bezog und beschränkte, desto klarer traten das Verschwinden und die Unerreichbarkeit substantieller Sinngebungen zutage. Am Ende kulminierte die Moderne in jenem 'ästhetischen Nihilismus', den nicht wenige philosophische Beobachter von Anfang an und immer wieder als das eigentliche Signum der Moderne verortet haben. Aus diesem Axiom wurde im Laufe der letzten Jahre vor allem die Frage abgeleitet, ob man die aus der vollendeten Selbstreferenz und Selbstlegitimierung der Moderne sich ergebende Sinn-Leere als völlige kulturelle Erschöpfung oder aber als conditio sine qua non der Befreiung von eben dieser Idee der Selbstermächtigung des Menschen, also als Befreiung vom "Projekt der Moderne" interpretieren soll. Hand in Hand damit gehen auch Überlegungen, wie und unter welchen Bedingungen die Ästhetische Moderne entstand, welche Merkmale diese Epoche der Künste systematisch von den vormodernen Künsten unterscheidet und - vor allem - ob die Epoche der Ästhetischen Moderne bereits abgeschlossen ist oder nicht.

Diesen Fragen ist jüngst der Literaturwissenschaftler Silvio Vietta, einer der wenigen profunden Kenner der Ästhetischen Moderne(n) in Europa, in seiner Darstellung der "Ästhetik der Moderne" nachgegangen, die von der "Entstehung und von den Systemstrukturen" dieser Makroepoche der Ästhetik handelt. Die theoretische Grundlegung dieser Epoche erfolgte nach Vietta in der Frühromantik Ende des 18. Jahrhunderts, ihre Ausläufer reichen bis in die Gegenwart. Zu den zentralen Thesen der Arbeit gehört, dass die epochengeschichtliche Umbruchssituation der Ästhetik um 1800 aus sich selbst heraus unverständlich ist. Daraus leitet Vietta die Annahme ab, dass der Aufbruch dieses Systems unter massivem Außendruck geschah. "Die Modernisierungsprozesse drangen aus den Nachbarsystemen in das System der Ästhetik ein und revolutionierten es. Insbesondere sind es Leitbegriffe aus den Systemen der Wissenschaft, der Philosophie und der Politik, die Ende des 18. Jahrhunderts in das System der Ästhetik eindrangen und den Begriff von Kunst von Grund auf revolutioniert haben." In der Einleitung wirft Vietta die Frage auf, wie und in welcher Beschreibungssprache die Genese und die Struktur der Ästhetischen Moderne dargestellt werden könne. Diese Frage sei umso dringlicher, als "die Epoche der Moderne eine der Erkenntniskrise und der Erkenntnisskepsis ist".

Der eigentliche Schlüsselbegriff für die Ästhetische Moderne ist nach Vietta der Begriff der Kontingenz. Kontingent ist bekanntlich stets das Nichtnotwendige ("Contingens est, quod nec est impossibile, nec necessarium", oder: "Contingens est, quod potest non esse" bzw. "Contingens est, quod potest aliud esse") - das, was auch hätte nicht sein können oder auch hätte anders sein können. Nach der Re-Ontologisierung der Kontingenz durch Leibniz im Kontext der Diskussion der Vernunft- und Tatsachenwahrheiten und der Realisierung des Bestmöglichen wird der Kontingenz-Begriff durch die Ent-Theologisierung der Philosophie in der Moderne und dem so genannten "Tod Gottes" frei für verschiedene Lesarten. Wo einerseits der Mensch als "Subjekt" und poietes seiner Welt primär nicht mehr mit dem, was nicht anders werden kann, sondern primär mit dem, was anders werden kann poietisch umgeht, indem er es umarbeitet, verwendet er das Kontingente als Material zur Faktur der künstlichen Welt der Artefakte. Nicht zuletzt deshalb hat sich in die Ästhetiken der jüngeren Moderne immer auch eine emphatische Reklamierung von Kontingenz eingeschrieben. Wo andererseits aber die Zentralstellung des "Subjekts" fällt und der Mensch nicht mehr als handelndes Wesen, sondern vor allem als "homo patiens" begriffen wird, dem etwas zustößt, was er verarbeiten muss, wird der Kontingenzbegriff virulent. Überspitzt könnte man formulieren, dass nach der Schwächung Gottes und der Auflösung des transzendentalen Subjekts nicht mehr notwendig und alles kontingent ist. In diesem Sinne entwerfen vor allem die poststrukturalistischen Paradigmen des Verstehens und Nicht-Verstehens einen radikalisierten Kontingenz-Begriff. So weit geht Vietta allerdings nicht. Seine Theorie der Ästhetischen Moderne ist von der These geleitet, dass diese selbst "eine eigene Zufallsästhetik generiert, dies aber nicht zufällig, sondern aus geschichtslogischen Gründen". Die Ästhetische Moderne zeige sich als ein "Produkt von Prozessen, die ihrer eigenen Geschichtslogik folgen und alles andere als zufällig sind. Der gesamten Moderne und so auch der modernen Ästhetik liegen Konstruktionsprinzipien zu Grunde, die eben in der Destruktion traditioneller Ordnungsmuster jene Kontingenzstrukturen erzeugen, die uns für die Moderne charakteristisch zu sein scheinen, in ihrer Geschichtslogik aber gerade nicht kontingent sind." Demzufolge ist Vietta darum bemüht jene nicht kontingenten Konstruktionsprinzipien der Moderne aufzuzeigen, um sich nicht in den Kontingenzen der Moderne zu verlieren.

Diese Vorentscheidungen bestimmen auch den Aufbau der Untersuchung: Kapitel I beginnt mit der Darstellung der Modernisierungsprozesse in den Nachbarsystemen der Ästhetik im 18. und 19. Jahrhundert, insbesondere im System der Wissenschaften, der Philosophie, der Politik und auch der Ökonomie. Quintessenz dieser Teiluntersuchungen ist, dass Modernisierungsprozesse in kulturellen Systemen sich in der Form von "Kettenreaktionen in den Systemen selbst und systemübergreifend" vollzögen, wobei die Initialzündung zu diesen Kettenreaktionen "von der Wissenschaftsrevolution" ausgehe: "Die philosophische Revolution der Aufklärung nimmt die Impulse der Wissenschaftsrevolution auf und setzt sie um in eine Neudefinition von Philosophie als Erkenntnistheorie." Kapitel II widmet sich der Bildenden Kunst und beschreibt nun die ästhetische Modernisierung im Medium Bild. Der Initialpunkt für Vietta ist hier die romantische Theorie der produktiven Wahrnehmung und der projektiven Einbildungskraft. "Die moderne Bildästhetik subjektiviert den Bildraum, indem sie zunächst den Wahrnehmungsakt in der Form des eingestalteten Betrachters ins Bild rückt und zunehmend auch den Bildgegenstand auflöst in die reflexive Darstellung der subjekthaften Wahrnehmungsformen und Darstellungsmittel des Mediums Bild bis hin zur gegenstandslosen Kunst des 20. Jahrhunderts." Das dritte Kapitel beschreibt Modernisierung im Medium der Literatur, wobei nicht visuelle Darstellungsmittel, sondern Sprechformen für dieses Medium konstitutiv sind. Modernisierung zeige sich in diesem Medium als "Subjektivierung der literarischen Sprechformen". Für Vietta definiert sich die moderne Literatur seit der romantischen Definition von fiktionalen Texten als "Transzendentalpoesie" als eine reflexive Form der Literatur, in der "die subjektive Perspektive der Wahrnehmung in den Text eingestaltet ist und so die Textualität bestimmt". Auf diese Weise leitet der Verfasser sechs Texttypen ab, die aus unterschiedlichen Perzeptionsformen des Subjekts entspringen und sich als "genuin moderne literarische Texttypen" beschreiben lassen: die Textualität der Emotion, die Textualität der Erinnerung, die Textualität der Assoziation, die Textualität der sinnlichen Wahrnehmung und die Textualität der Reflexion. Passend hierzu bietet Vietta auch eine Definition des in der Literaturtheorie heiß diskutierten Begriffs der "Textualität" an. Dieser meine, dass "alle relevanten Textstrukturen: die Semantik, die Syntax, die Bildlichkeit, die Darstellung der Figuren, die Behandlung von Raum und Zeit von der jeweils dominanten Textform strukturiert werden, mithin die Texttypologie eine Funktion der jeweils dominanten Textform ist. Dabei realisieren sich Textformen immer in Überschneidungen. Kein literarischer Text ist Ausdruck nur einer Textform." Für Vietta ist das auszeichnende Kriterium moderner Texte gegenüber vormoderner Literatur, dass sie immer auch "Selbstdarstellung der Subjektivität" sind. In dem Maße, wie diese Texte nicht mehr auf das rationale Vernunft-Ich der Subjektphilosophie rekurrieren, sondern "das Ich als Materie der Selbsterforschung" begreifen, haben sie auch einen experimentellen Charakter.

Vietta definiert die Epoche der Ästhetischen Moderne durchgängig von ihrer theoretischen Begründung aus, setzt die Initialmarke um 1800, und nicht, wie es vielfach auch geschieht, um 1900, da viele der ästhetischen Programme, die die Romantik angedacht hat, erst in diesem Zeitrahmen ästhetisch umgesetzt worden seien. Der Verfasser entscheidet sich vor allem deshalb für das frühere Datum, weil seiner Meinung nach die moderne ästhetische Praxis gar nicht angemessen verstanden werden könne, wenn nicht die vorgängigen revolutionären Umwälzungen im Rahmen eines komplexen Prozesses der epistemologischen Modernisierung begriffen worden sind. Auch auf die Frage, ob die Ästhetische Moderne abgeschlossen sei oder noch andauere, findet Vietta eine eindeutige Antwort: Unter der Voraussetzung, dass die Ästhetische Moderne wesentlich durch den Begriff des "Experiments" geprägt war, scheint mit der so genannten Postmoderne diese Epoche auch abgeschlossen zu sein. Trotzdem gesteht Vietta zu, dass auf der anderen Seite "zentrale Formimpulse der Moderne wie die offenen, fragmentarischen, collagehaften ästhetischen Strukturen auch in neuen, technisch-medial vermittelten Text- und Bildformen" noch fortwirken. Damit wäre auch in der Postmoderne das Zeitalter der modernen Experimentalästhetik noch nicht an ihr Ende gekommen, gleichwohl aber an einer "Transformationsschwelle" angelangt: "Transformation ins Medium der technischen Kommunikation". Das Schlusskapitel bietet dem entsprechend einen explizit spekulativ-prognostischen Ausblick auf die Ästhetik in der Epoche der kapitalistischen Technoarchie.

Gleichwohl seien Viettas konzise Gedanken mit einer Gegen-Position konfrontiert, die seine Ansichten zur Postmoderne modifizieren könnte: Begreift man Postmoderne nicht als Inhaltslosigkeit, Beliebigkeit oder reines Zitat der Moderne, sondern als Wiederaufnahme, als Re-Lektüre der Grundideen der Moderne, dann wäre sie ein erneuter Anlauf zur Durchsetzung und Weiterführung des politisch-gesellschaftlichen Kerngedankens der Moderne, des Prinzips der Freiheit des Individuums, und das Bemühen um eine gesellschaftliche Ordnung auf dieser Basis. Der Postmoderne-Begriff setzt eine entschiedene Zäsur und bringt den Modernisierungsprozess einschließlich seiner Begründungsbewegung in den Blick. Er macht die gesamte philosophische Moderne mit ihren konfligierenden diskursiven Strategien zum Untersuchungsfeld. Dadurch zeigt sich, was ihnen gemeinsam ist: einer Ordnung anzugehören, die auf der Ausgrenzung von Heterogenität beruht. Erst mit der Kritik an der Ausgrenzung des Differenten, dem Bewusstsein, dass der Sinn nicht die letzte Schicht eines Textes ist und an die Stelle des transzendentalen Signifikats die différance tritt, sowie einer "Lektüre", die das Ausgegrenzte wieder ans Licht bringt, beginnt die Postmoderne - als Neutralisierung und Transformierung der Moderne.

Titelbild

Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
318 Seiten, 35,80 EUR.
ISBN-10: 3770536312

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