Ein Geschwisterpaar aus dem Kreis der Saturnier

Der Briefwechsel von Gotthold Ephraim Lessing und Eva König in einer Neuausgabe

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Meine liebste Madam": So beginnt der erste Brief Lessings an Eva König, geschrieben im Juni des Jahres 1770. Zu diesem Zeitpunkt ist sie Mitte dreißig, Mutter von vier Kindern und seit einem Jahr Witwe. Er ist Anfang Vierzig und steht im Ruf, dass er schon in jüngeren Jahren nichts hat anbrennen lassen. Ihr Briefwechsel, der insgesamt knapp zweihundert Briefe, davon einhundertundzehn aus der Feder Eva Königs umfasst, liegt nun neu herausgegeben und vorzüglich kommentiert von Wolfgang Albrecht, ergänzt um einen Essay von Walter Jens, im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger vor. Er ist das Dokument einer intensiven Freundschafts- und Liebesbeziehung, zeugt gleichwohl aber von einem gesunden Realitätssinn auf beiden Seiten. Von Liebesbriefen im herkömmlichen Sinn kann zumindest zu Beginn der Korrespondenz nicht die Rede sein; eher sind es, dem zeitgenössischen Briefstil entsprechend, tagebuchähnliche Schilderungen ganz gewöhnlicher Sorgen und Nöte. Der Ton zeugt eher von freundschaftlicher Verbundenheit denn von einem unkontrollierbaren Gefühlsaufruhr, doch mehr und mehr verrät die liebevolle Beschreibung minutiöser Details, dass diese beiden Menschen größten Anteil am Leben des jeweils anderen nehmen. Dabei sind sie durchaus nicht in ständigem Kontakt; manchmal vergehen sechs bis acht Wochen, ohne dass sie voneinander hören.

Eva König und Lessing schreiben sich über einen Zeitraum von etwas mehr als sechs Jahren, die Korrespondenz beginnt unmittelbar nach Lessings Übersiedlung nach Wolfenbüttel und endet kurz vor der Heirat der beiden am 8. Oktober 1776. Die Briefe dokumentieren nicht nur das Fortschreiten der Freundschaft zwischen Lessing und Eva König nach dem Tod ihres Mannes Engelbert König, sie spiegeln zugleich auch die Kulturgeschichte ihres Zeitalters, der Gesellschaft und der Sitten des 18. Jahrhunderts in Hamburg und Wien wider. Während dieser Zeit war es Eva König in Wien vor allem darum zu tun, das Erbe ihres Mannes, bestehend unter anderem aus schwer verkäuflichen Seiden- und Tapetenmanufakturen, zu regeln. Lessing wiederum war um eine Stellung bemüht, die es ihm ermöglichen sollte, eine Familie zu ernähren.

Sobald Lessing das Wort an seine "liebste Freundin" richtet, tritt der Gelehrte in den Hintergrund. Sein Talent als Briefschreiber ist nicht verwunderlich. Bereits seit der von Helmuth Kiesel im Rahmen der neuen Lessing-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag veranstalteten dreibändigen Edition der Briefe Lessings, die erstmals dessen gesamten Briefwechsel von 1743 bis 1781 versammelt, kann man bestaunen, wie sehr sich Lessings genialische Individualität auch in seinen Briefen niederschlug. Erst in seinen Briefen wird Lessings bahnbrechende Originalität in ihrer normsprengenden Kraft erkennbar: materiellen Schwierigkeiten gegenüber ebenso wie intellektuellen Widerständen, denen er Lebensform und Werk abrang. Diese "ganz aus dem wirklichen Leben genommene Unterhaltung" (Hegel) mit ihrer überraschend großen Vielfalt an Motiven und Themen, begegnet bereits in dem berühmt gewordenen Diktum aus einem Brief an die Schwester Dorothea Salome vom 30. Dezember 1743. Dort heißt es belehrend: "Ich habe zwar an Dich geschrieben, allein Du hast nicht geantwortet. Ich muß also denken, entweder Du kannst nicht schreiben. Und fast wollte ich das erste behaupten. Jedoch will ich auch das andre glauben; Du willst nicht schreiben. Beides ist strafbar. Ich kann zwar nicht einsehn wie dieses beisammen stehn kann: ein vernünftiger Mensch zu sein; vernünftig reden können; und gleichzeitig wohl nicht wissen, wie man einen Brief aufsetzen soll. Schreibe wie du redest, so schreibst du schön." Nun, Eva König konnte schreiben. Sie schreibt mit Schwung und zeigt ein Gefühl für Sprache, das auch Lessing manches Mal in Erstaunen versetzt haben dürfte, etwa wenn sie nach einer ungewohnt sehnsuchtsvollen, schwärmerischen Bemerkung seinerseits darauf hinweist, dass der komplimentierende Ton ihm nicht gut anstehe. Gleich zu Beginn ihrer Korrespondenz, als Lessing ihren Briefstil lobte, verbat sie sich Schmeicheleien und forderte den Freund zu einer sachlichen und ehrlichen Mitteilungsform auf: "Warum nennen Sie mich eine fertige Briefschreiberin? Unmöglich wollen Sie mich zum besten haben. Viel lieber will ich glauben: dass sie diesesmal in den Ihnen ganz ungewöhnlichen Komplimententon gefallen sind. Er kleidet sie nicht; darum hüten Sie sich inskünftige davor." In ihrem gezügelten Temperament und ihrer Strenge wird sie vollends zu Lessings kongenialer Partnerin: Lessing selbst ist kein Mann, der gerne und oft über Gefühle schreibt oder gar sein Innerstes offenbart. Dennoch erfährt man, wie es ihm geht: meistens schlecht. Er vermisst die Hamburger Freunde und fühlt sich einsam, ihn plagen Zahnschmerzen und Geldsorgen. Aber auch Eva König klingt häufig melancholisch, sorgt sich um ihre Kinder, um die Geschäfte, um ihn. Das Führen der Korrespondenz, das Kontrollieren der Bilanzen, das permanente Verhandlungsgespräch mit Behörden, privaten Handelsleuten und Interessenten bis zum endlichen Verkauf der beiden Fabriken - all das wurde zu einem wahren Leidensweg, der zu einer Schwächung der körperlichen und geistigen Kräfte der Frau führte. Es spricht für Eva König, dass sie Lessing trotz dieser Bedrängnis nicht mit ihren Problemen belasten wollte. Auch den vorübergehenden Plan einer gemeinsamen Existenz in Wien verwarf sie, als ihr bewusst wurde, dass eine berufliche Karriere Lessings am Habsburger Hof mit dem Übertritt zum Katholizismus verbunden gewesen wäre.

So entwickelte sich eine traurige Korrespondenz, in deren Vordergrund meist das Thema der Existenzsicherung, das Problem "des hinlänglichen Auskommens" stand, wie Hegel es genannt hat. Hinter dem sachlichen, scheinbar gefassten Ton der Briefe Eva Königs verbarg sich die Sehnsucht nach einem nicht vergönnten gemeinsamen Leben. Auch wenn sie die Wichtigkeit ihrer Reisen und die Fehlschläge ihrer Bemühungen nicht verschwieg, nahmen ihre Berichte nie die Form von Klagen an. Trotz ihrer angespannten Situation, die dazu geführt hatte, dass ihre gesellschaftlichen Kontakte in Hamburg und Wien auf ein Minimum beschränkt blieben, versäumte es Eva König selten, Lessing neben all den geschäftlichen Informationen auch ihre Beobachtungen über Theateraufführungen, Bücher oder gesellschaftliche Ereignisse mitzuteilen. Zu Lessings Tugenden gehörten Geduld und Gelassenheit bekanntlich nicht, er haderte offen mit seinem Schicksal, und seine Briefe wurden immer verbitterter. Eva Königs lange Abwesenheit steigerte seinen Verdruss und die Melancholie. Oft fühlte er sich krank und suchte Ablenkung im Spiel, es gelang ihm sogar, auch Eva König für das Lotto-Spiel zu begeistern. Vor dem Hintergrund von Karl S. Guthkes Entdeckung des Spielers Lessing liest man diese Passagen mit besonderem Interesse. Die Breslauer "Szene", Lessing aus Sachsen mit preußischen Offizieren am Wirtshaustisch, hitzig um sehr hohe Einsätze spielend, hat Berühmtheit erlangt. Moses Mendelssohn hat darauf ein schönes Epigramm gemacht, das eine leise Klage über ein nicht ganz beantwortetes freundschaftliches Werben in scherzhafte Ironie kleidet: "Wenn er nicht hört, noch spricht, nicht fühlt,/ Noch sieht; was thut er denn? - Er spielt." Lessing selbst äußerte sich über seine Spielleidenschaft auf frappierende Weise. Er spekuliert über den später von Michel Foucault systematisch untersuchten Zusammenhang von Genie und Krankheit: "Ihre Liebe", schreibt er an Ramler, "wünschet mich gesund; aber sollten sich wohl Dichter eine athletische Gesundheit wünschen? Sollte der Phantasie, der Empfindung, nicht ein gewisser Grad von Unpässlichkeit weit zuträglicher sein? Die Horaze und Ramler wohnen in schwächlichen Körpern. Die gesunden Theophile [gemeint ist der Schauspieler Döbbelin] und Lessinge werden Spieler und Säufer: Wünschen Sie mich also gesund, liebster Freund; aber wo möglich, mit einem kleinen Denkzeichen gesund." Lessing gibt das Spiel nie mehr auf, er tut sich sogar im Lotteriespiel mit Eva König zusammen, obgleich nurmehr mit moderaten Einsätzen. Da man zu seinem Leidwesen Anfang der siebziger Jahre in der Braunschweiger Residenz noch nicht in der Lage war, eine Lotterie "zu Stande zu bringen", erkundigte Lessing sich von Wolfenbüttel aus bei der Freundin über neue Einsatzmöglichkeiten.

Die Lotto-Korrespondenz sollte sich noch intensivieren, nachdem endlich Braunschweig und auch Stralsund als weitere Ziehungsorte in Betracht kamen. Doch der verspielte Ton, der dieses offensichtlich für beide Briefpartner vergnügliche Thema bestimmte, wich immer häufiger dem Ton von Schwermut und ungeduldiger Sorge. Auch spricht immer wieder seine ganze bittere Erfahrung mit dem Braunschweiger Hof aus seinen Zeilen - so in der Mitteilung vom 8. Januar 1773 an Eva König, er habe zum Neujahrsempfang "mit andern getan, was zwar nichts hilft, wenn man es tut, aber doch wohl schaden kann, wenn man es beständig unterlässt": er habe "Bücklinge gemacht, und das Maul bewegt". Eine deutliche Abkühlung der Gefühle bis hin zur gelegentlichen Verzweiflung, die sich auch in akuten Krankheitsschüben äußerte, dokumentieren ihre Briefe während Lessings Italienreise im zweiten Halbjahr 1775 und auch noch in den ersten Monaten des Jahres 1776, als Lessing immer noch zögerte, sich auf einen festen Heiratstermin einzulassen. Sein auffälliges Zögern, eine endgültige Verbindung mit Eva König einzugehen, hatte ihren Grund - neben der allgemeinen Angst vor dem Verlust seiner Unabhängigkeit - vermutlich in der Liebeswerbung einer anderen Frau: Ernestine Christine Reiske, die Lessing durch seinen Kontakt mit ihrem Ehemann Johann Jacob Reiske, einem gelehrten Philologen und damaligem Rektor der Nikolaischule, der im August 1774 verstarb, kennen gelernt hatte. Im November 1775 waren die Gerüchte einer bevorstehenden Heirat Lessings mit Ernestine Christine Reiske auch bis zu Eva König vorgedrungen. Neben der Klage über die "Ungewissheit" seines Aufenthaltsortes stellt sie in ihrem Brief vom 5. November 1775 auch die Frage an Lessing, "ob die Neuigkeit wahr" sei, dass "[e]in gewisser Mann, den Sie leicht erraten werden", die Witwe von Professor Reiske heirate. Es ist zumindest ungewiss, ob Lessing diesen Brief in Italien erhalten hat. Eine direkte Antwort von ihm liegt nicht vor. Aber unmittelbar nach seiner Rückkehr, am 26. Dezember 1775, schrieb er Eva König: "Ich brenne vor Verlangen, es von Ihnen selbst zu erfahren, dass Sie sich gesund und wohl befinden, und mir Ihre Liebe, trotz der fatalen Reise, nach wie vor schenken."

Am 8. Oktober 1776 wurde schließlich die Trauung im Haus des alten Freundes Johann Schuback in York vollzogen, am 14. Oktober zog das Ehepaar zusammen mit Evas Kindern und einem Dienstmädchen nach Wolfenbüttel. Die Heirat bedeutete schon fast das tragische Ende ihrer Beziehung. Am 10. Januar 1778 starb Eva König im Kindbett, nur wenige Tage nach dem Tod des neugeborenen Sohnes. Am gleichen Tag schrieb Lessing seinem Herausgeber und Freund Johann Joachim Eschenburg: "Meine Frau ist tot, und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, dass mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen, und ich bin ganz leicht." Lessings Wunsch, es "auch einmal so gut" zu haben wie "andere Menschen", ging nur für kurze Zeit in Erfüllung. Übrig bleiben, wie Walter Jens treffend hervorhebt, die Texte eines "Geschwisterpaar[es] aus dem Kreis der Saturnier, beide melancholisch [...], beide am Rand einer bösartigen und langandauernden Depression, beide deshalb um die Seelenlage des anderen wissend und beide entschlossen zu hilfreicher Tröstung."

Titelbild

Gotthold Ephraim Lessing / Eva König: Briefe aus der Brautzeit. 1770 - 1776. Mit einem Essay von Walter Jens.
Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weimar, Weimar 2000.
480 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3740011114

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