Wie viel Aristoteles steckt in Lessing?
Eun-Ae Kim untersucht Lessings Tragödientheorie im Licht der neueren Aristoteles-Forschung
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der mittleren Phase der Aufklärung wird das Zusammenwirken von Erkennen und Wollen von der "sinnlichen Natur" des Menschen her in Frage gestellt. Die Körperempfindungen, Triebe, unwillkürlichen Bedürfnisse, Neigungen und Leidenschaften scheinen oftmals auf unüberwindliche Weise die vernünftige Einsicht zu durchkreuzen: für solche Widersprüche erwacht in den theoretischen Texten der Zeit stärker das Interesse. Gleichzeitig werden zahlreiche Konzeptionen entwickelt, die Möglichkeiten der Versöhnung andeuten, Modelle, in denen der Widerspruch zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, "Kopf" und "Herz" aufgehoben erscheint. Solche Konzeptionen sind die "sinnliche Erkenntnis", der "Geschmack", das "Mitleid", die "Sympathie", der "moral sense" und schließlich der Gedanke der Determination. Die ersten drei Begriffe gehören in das Gebiet der Ästhetik, die letzten in das Gebiet der Moralphilosophie. Mit dem "Mitleid" ist hier das Mitleid gemeint, das die Tragödie erregen soll.
Bei Lessing übernimmt die Funktion des "moral sense" das Mitleid. Die Verschiebung ist von einiger Bedeutung. Lessing ist den "schönen sittlichen Empfindungen" gegenüber skeptisch. Überall entdeckt er die Mischung von egoistischen und altruistischen Antrieben. Seine Mitleidskonzeption scheint hier zwei Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Erstens ist in ihr die "sinnliche Natur" des Menschen errettet, die Selbstliebe ist durch eine Gegenkraft ausbalanciert. Zweitens macht das Mitleid den Menschen in seiner Verletzbarkeit sichtbar. "Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch", so begründet Lessing die erzieherische Wirkung der Tragödie, deren "Zweck" die "Erregung von Mitleid" sei. Einerseits erhebt er die sinnliche Konstitution geradezu zur Voraussetzung von "Moralität". Die andere Erfahrung jedoch, die diesem Satz zugrunde liegt und gleichsam dessen Kehrseite bildet, ist die Erfahrung, dass der Mensch das Wesen ist, das Mitleid braucht und seine "Wahrheit" nur dem Blick des Mitleids enthüllt. Emanzipation der menschlichen Natur und Skepsis gehen eine Symbiose ein.
Jeder, der im 18. Jahrhundert über die Tragödie schreibt, steht auf dem Boden der "Poetik" des Aristoteles. Die aristotelische Bestimmung lautet: Die Tragödie ziele auf die Erregung und Reinigung der Leidenschaften. Die emotionale Wirkung steht im Zentrum dieser Konzeption. Damit trifft der aristotelische Tragödiensatz einen Nerv der Zeit. Die Empfindungen und Gefühle, die sinnlichen Antriebe, werden generell zu einem Brennpunkt des Interesses. Dramentheorie, Sittenlehre und Psychologie begegnen sich. Dazu tritt als wichtiger theoretischer Impuls die Grundlegung des bürgerlichen Trauerspiels. Zur Aufklärung des Kopfes gesellt sich frühzeitig die Aufklärung des Herzens, die gerade für die kathartische Wirkungsabsicht der Tragödie von größtem Gewicht ist. Als "großen Kunstlehrer" bezeichnet Johann Jacob Breitinger die bewunderte Autorität Aristoteles in den 1746 publizierten "Critischen Briefen", die zur Tragödienauffassung der "Poetik" einiges anzumerken haben. Ähnlich äußern sich auch Bodmer, Curtius und der junge Lessing, für den die aristotelische Dichtungstheorie die Quelle darstellt, aus der alle späteren Autoren "ihre Fluten bewässert haben". In Gottscheds Sicht besteht Aristoteles' Leistung vor allem darin, dass er verbindliche Normen entwickelt hat, die nicht nur theoretische Urteilsmaßstäbe bereitstellen, sondern auch die dichterische Praxis unmittelbar beeinflussen. Aristoteles wird bei Gottsched zum Regelpoetiker, der handfeste Empfehlungen für die nachfolgende Autorengenerationen abgegeben hat und als dichtungstheoretische Autorität noch im 18. Jahrhundert unangefochten bleibt.
Als wegweisender Gesetzgeber galt Aristoteles schon den Poetikern der italienischen Renaissance. Die bedeutendsten dichtungstheoretischen Abhandlungen des Cinquecento sind zuallererst gelehrte Kommentare der "Poetik" und ihrer knappen, häufig dunklen poetologischen Bestimmungen. Das gilt vor allem für Francesco Robortellos "In librum Aristotelis arte poetica explicationes" (1548), Antonio Sebastiano Minturnos "L'arte poetica" (1564), Lodovico Castelvetros "Poetica D'Aristotele vulgarizzata e sposta" (1576) und Giovanni Antonio Viperanos "De poetica libri tres" (1579). Daniel Heinsius' "De Tragoediae constitutione liber" (1611), Alexander Donatus' "Ars Poetica" (1631) und Emanuele Tesauros "Il cannocchiale aristotelico" (1654) setzen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, die Aristoteles-Rezeption im 17. Jahrhundert fort, auch wenn ihre Kommentare höchst eigenwillig bleiben und den tragödientheoretischen Grundbegriffen der "Poetik" nicht mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Interessanter Weise halten sich lediglich die Dichtungslehrer des deutschen Barock von Aristoteles fern und umgehen eine nähere Auseinandersetzung mit ihm. Im gesamten 18. Jahrhundert wurde die "Poetik" dann das Haupt- und Grundbuch der Tragödienlehre. Von den aristotelischen Wirkungsbegriffen ging fast jeder Dichter aus, der sich mit Fragen der tragischen Gattung beschäftigte, selbst, wenn er wie etwa Wieland zu dem Ergebnis gelangte, dass sie allzu eng gefasst und auf moderne Trauerspiele nicht übertragbar wären. Ihre Verbindlichkeit verliert sie erst, als man sich am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr an der Poetik des Trauerspiels interessiert zeigt, sondern eine Philosophie des Tragischen zu entwickeln sucht.
Lessing hat seine Dramentheorie vor allem an zwei Orten dargelegt. Zum einen in dem gemeinsam mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai geführten "Briefwechsel über das Trauerspiel" (1756/57) und zum anderen in der "Hamburgischen Dramaturgie", die 1767 begonnen und 1768 beendet wurde. Obwohl die thematischen Gemeinsamkeiten insgesamt nicht zu übersehen sind, so unterscheiden sich die beiden Schriften doch erheblich, und zwar nicht nur, was die Auslegung und Funktionsbeschreibung der Affekte "Furcht" (phobos) und "Mitleid" (eleos) betrifft, sondern auch methodisch. Während Lessing im "Briefwechsel" den Versuch, das Tragische mit dem Mitleidsvollen zu identifizieren, über eine rein psychologische Untersuchung der tragischen Emotionen bewerkstelligte, wiederholte er in der "Hamburgischen Dramaturgie" diesen Versuch auf der Basis einer philologischen Untersuchung des aristotelischen Textes vor dem Hintergrund einer voll ausgearbeiteten Tragödientheorie. Als einer der ersten konstruiert Lessing die Wirkungsformel des Tragödiensatzes richtig, indem er das Demonstrativpronomen "ton toioúton (pathématon)" - "(Reinigung) von diesen (Leidenschaften)" - auf eleos und phobos bezieht. Damit ist die viel verhandelte 'Abschreckungstheorie' von Aristoteles her widerlegt. Deren Vertreter haben "ton toioúton" auf die Leidenschaften der Dramenfiguren bezogen, von denen die Zuschauer 'gereinigt' werden sollten. Dabei schöpft Lessing den gesamten Bedeutungsspielraum des Genitivs "Reinigung der Leidenschaften" aus: Genitivus subjectivus, separativus und objectivus kommen in seinen Bestimmungen zum Zug. Sinngemäß liegt jedoch der Genitivus objectivus zugrunde. Immer sind "Mitleid" und "Furcht" der Gegenstand einer Reinigung, Verwandlung, einer Korrektur und Läuterung.
Lessings Aristoteles-Deutung gerät in dem Augenblick in den Mittelpunkt des Interesses, in dem ein Bild von der griechischen Tragödie sich durchsetzt, das von der humanitär-philanthropischen Deutungstradition abweicht. Die Lessing-Interpretation verknüpft sich hier mit der Geschichte der Altphilologie. Eine Summe der Argumente, die die Schere zwischen Lessing und Aristoteles betonen, bietet der bekannte Aufsatz von Wolfgang Schadewaldt ("Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes", 1955). Schadewaldt rückt den Lessingschen Mitleidbegriff in die christliche Tradition. Von ihr habe das "Mitleid" seine moralische Einfärbung erhalten. Aristoteles' eleos habe mit diesem Mitleid kaum etwas gemein. Wie phobos sei eleos ein "naturhaft ungebrochener Elementaraffekt". Als solche gehöre er für den Griechen in den Bereich des Triebhaften, das als Gefährdung empfunden werde. Die antike Tragödie ziele somit zunächst auf eine elementare Erschütterung, die mit moralisierenden Kriterien nicht zu fassen sei. Für die Katharsis-Deutung bedeutet dies: Lessing habe Aristoteles die Meinung unterlegt, die Tragödie sei "eine Art moralischer Kuranstalt", durch die "der ganze seelische Habitus des Menschen eine nachhaltige Besserung" erfahre. Im Gegensatz dazu sei der Katharsis-Begriff bei Aristoteles doppelt konnotiert. Einerseits sei er nicht loszulösen von seiner wörtlichen medizinischen Bedeutung und meine eine "Entladung" von störenden Gemütsbewegungen. Andererseits wolle Aristoteles mit der "Katharsis" auf das spezifische Vergnügen verweisen, das die Tragödie durch die Erregung und Befreiung von Leidenschaften bewirke. Als einen Vorgang, der primär unreflektierte Gefühle involviere und daher affektgebunden sei, habe Aristoteles die Katharsis jedoch aus dem Bereich der Erziehung und 'moralischen' Charakterbildung ausgeschlossen. Aus altphilologischer Sicht wird meist (wie etwa von Manfred Fuhrmann) die moralisierende Komponente von Lessings Mitleidsbegriff betont, um ihn dadurch von der Affekterregung und -reinigung, wie sie Aristoteles im Sinn habe, abzugrenzen.
Es ist vor allem das Verdienst Max Kommerells, die Bedeutung, die das unmittelbar Affektive und Leidenschaftliche auch für Lessing besitzt, herausgestellt zu haben. Kommerell beleuchtet Lessings Theorie im Zusammenhang mit seiner Polemik gegen Corneille. Lessing habe die mit der Tragödie verbundene Wirkungsabsicht neu profiliert. Er habe die Identität von "Wesen" und "Wirkung" der Tragödie wieder entdeckt und die tragische Erschütterung als ein aufwühlendes Gefühlserlebnis ernst genommen. Fast zwangsläufig führt die Aristoteles-Auslegung zur Analyse der Empfindungen. Die 'Leidenschaften' stehen im Mittelpunkt der Definition aus der "Poetik". Lessings Mitleidsbegriff berührt zentrale Probleme der zeitgenössischen Affektenlehre. Er ist das Musterbeispiel dafür, dass der aufklärerische Disput über die aristotelische Tragödiendefinition stets eingebettet bleibt in den Streit der literaturtheoretischen Konzepte, die bevorzugt unter Rekurs auf die antike Autorität formuliert werden. Die Zwistigkeiten, die das Verständnis des aristotelischen Tragödiensatzes betrafen, sind gewiss auch aus der desolaten Textlage und dem Fehlen einer verbindlichen Übersetzung abzuleiten. Erst 1753 wurde eine komplette deutsche Übersetzung der "Poetik" von Michael Conrad Curtius publiziert. Lessing, der die neue Edition kurz nach ihrer Veröffentlichung für die "Berlinische Privilegierte Zeitung" rezensierte, bescheinigte Curtius, er besitze "alle Eigenschaften, welche zu Unternehmung einer solchen Arbeit erfordert wurden: Kenntnis der Sprache, Kritik, Literatur und Geschmack. Seine Übersetzung ist getreu und rein; seine Anmerkungen sind gelehrt, und erläutern den Text hinlänglich".
Bereits die aufgeklärte Tragödiendiskussion unterlag daher einer Schwierigkeit, die auch noch die aktuelle Beschäftigung mit der aristotelischen Poetik in unseren Tagen beherrscht: eine 'objektive' Übersetzung und Kommentierung zumal der Tragödienabschnitte scheint nicht zuletzt deshalb fast unmöglich, weil die Terminologie von vornherein inhaltliche Entscheidungen impliziert, die ihrerseits subjektiven, zumindest aber zeitbedingten Urteilen entspringt. Die Themen, über die bis heute keine Einigung erzielt werden konnte, sind nun gerade diejenigen, die sowohl für die aristotelische als auch für die Lessingsche Auffassung der Tragödie zentral sind. Es geht um das Verständnis des Begriffs der Mimesis, um den Begriff der Handlung und um die Bedingungen der Einheit der Handlung, um die richtige Art der Charakterdarstellung, um den Begriff der tragischen hamartia, um Lessings Auslegung der tragischen Affekte phobos und eleos als "Furcht" und "Mitleid" und um seine Deutung der tragischen Katharsis als einer Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten. Neuere Ansätze der gräzistischen Forschung erlauben es allerdings, der Tragödientheorie des Aristoteles schärfere Konturen zu geben, indem sie die fossilierte Opposition von intellektueller und ethischer Deutung der katharsis zu überwinden trachten. Vor allem Arbogast Schmitt (etwa in den Aufsätzen "Aristoteles und die Moral der Tragödie", von "Wesenszüge der griechischen Tragödie", 1997) und Viviana Cessi ("Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles", 1987) haben nachgewiesen, dass es - nach Aristoteles - für das praktische Denken gar keine kategoriale Trennung zwischen Erkenntnisvermögen und Affekten gibt. Aristotelisches Denken orientiert sich nicht nur am Zweck bzw. Ziel des jeweiligen Phänomens, sondern unterscheidet dabei auch zwischen dem Ziel, das um seiner selbst willen angestrebt wird, und solchen Zielen, die nur Mittel zum Zweck sind. Als ein eher untergeordnetes Ziel hat Aristoteles die Erregung der Affekte Furcht und Mitleid eingeschätzt. Das wirkliche Ziel der Tragödie hat er dagegen in einer Reinigung (katharsis) dieser Affekte gesehen. Nach Schmitt ist das eigentliche Ziel der griechischen Tragödie eine "Kultur des Affekts": "Diese erreicht sie nicht durch erzieherische Mittel im eigentlichen Sinn, also z. B. durch Belehrung o. ä., sondern eben durch den Affekt selbst, genauer: durch die Steigerung des im Affekt selbst wirksamen Moments der Rationalität. Nicht durch abstrakte Belehrung, sondern durch die Erregung angemessener Affekte lehrt die Tragödie Furcht und Mitleid zu empfinden dort, wo es angemessen ist, so, wie es angemessen ist, und angesichts von Personen, bei denen es angemessen ist." Deshalb lässt sich nach Cessi bei Aristoteles "im Rahmen des praktischen Denkens weder ein Gegensatz noch eine kategoriale Trennung feststellen zwischen dem Intellekt als einem sittlich indifferenten Erkenntnisvermögen und dem Affekt als dem blanken Ausdruck eines Strebens, zwischen rationalen und irrationalen Vermögen. [...] Die Affekte sind selbst Ausdruck eines Aktes der Unterscheidung und der Zusammensetzung."
Im Licht dieser neuen Erkenntnisse untersucht die Arbeit von Eun-Ae Kim die Aristoteles-Rezeption bei Lessing in dem "Briefwechsel über das Trauerspiel" mit Mendelssohn und Nicolai und in seiner "Hamburgischen Dramaturgie" und kommt zu dem gegenüber der bisherigen Forschung überraschenden Ergebnis, dass Lessing einerseits Aristoteles oft angemessener interpretiert, als die bisherige Forschung glauben machen wollte, dass andererseits seine Abweichungen zu Aristoteles (ohne allerdings auf die Aspekte einer 'produktiven Rezeption' (Wilfried Barner) des Aristoteles einzugehen) weitgehend der Deutungstradition verpflichtet ist, die sich bereits in den ersten großen "Poetik"-Kommentaren der Renaissance nachweisen lässt. Damit lässt sich schärfer erkennen, wo sich Lessing mit "entschiedene[m] Griff hinter die Vermittler zurück, nach dem griechischen Original" (Barner) ausrichtet und wo er sich, über die aktuellen Tageskontroversen hinaus, in den breiten Strom der neuzeitlichen "Poetik"-Deutung insgesamt einordnet. Auf dieser Basis gelingt Eun-Ae Kim eine über weite Strecken überzeugende Abgrenzung Lessings auch gegenüber den Einflüssen, die - aus der doctrine classique und Aufklärung kommend - für die historisch individuelle Gestalt seines Verständnisses von tragischer Dichtung maßgeblich waren. Lessings Deutung der aristotelischen katharsis in der "Hamburgischen Dramaturgie" als "Verwandlung" der beiden "Leidenschaften" Furcht und Mitleid in "tugendhafte Fertigkeiten" habe sich insoweit als zutreffend erwiesen, "als sie - einmal - die Reinigung lediglich auf die Affekte Furcht und Mitleid (sowie eng damit verwandte Empfindungen) bezieht und eine Ausdehnung auf andere schädliche Affekte (nämlich insbesondere jene, die die Bühnenfiguren ins Unglück gestürzt haben) ausdrücklich ablehnt." Lessing sehe richtig, dass die aristotelische katharsis nicht auf eine 'homöopathische' Bekämpfung der Affekte, sondern gerade auf deren 'Kultivierung', d.h. eine Steigerung der beiden Affekte "Furcht" und "Mitleid" zu ihrer optimalen Form, abziele. Stärker als Aristoteles, der nur von 'Lernprozessen' (manthanein) spricht, betone Lessing "die moralische Wirkungsabsicht des Tragödiendichters, der im Theater unsere ethischen Maßstäbe festigen bzw. korrigieren wolle und dabei als Hauptinstrument die Charaktere der Figuren benutze, die er entweder als nachahmenswerte Vorbilder oder als abschreckende Gegenbeispiele gestalte".
Was Eun-Ae Kim jedoch übersieht, ist, dass Lessings Auseinandersetzung mit Aristoteles primär auf der eigenen Dramenkonzeption fußt, nicht umgekehrt. Für die eigenen Theoreme, wie sie im Gedanken der Kausalität und psychologischen Vertiefung fundiert sind, findet er in der "Poetik" die bestätigenden Begriffe. Lessing gelingt die Verbindung zwischen dem dramatischen Handlungs- und Sinnzusammenhang und der affektiven Wirkung, die nicht mehr stoisch umgedeutet wird. Das Bühnengeschehen erfüllt sich also erst im Gefühlserlebnis der Zuschauer. Umgekehrt empfängt dieses von jenem seine Inhalte. Keine noch so "deutliche Erkenntnis" irgendeiner abstrakten Lehre kann die "Rührung" ersetzen. Sie ist auf die konkrete Fülle der tragischen Ereignisse bezogen. Insofern er vom Trauerspiel ungebrochene Wirkung verlangt und diese Wirkung in die Gefühlserregung legt, darf sich Lessing zu Recht als Erneuerer der aristotelischen Tradition sehen. Zugleich aber stellt auch er die "Poetik" in den Dienst der eigenen Tragödienkonzeption, deutet auch er Aristoteles so, dass dessen Begriffe seine, Lessings, Konzeption bedeuten.
"Der Critiker, der die Schönheiten eines Alten aufkläret und rettet, hat meinen Dank: der aber von ihnen so durchdrungen ist, so ganz in ihrem Besitze ist, daß er sie seiner eignen Zunge vertrauen darf, hat meinen Dank und meine Bewunderung zugleich. Ich erblicke ihn nicht mehr hinter, ich erblicke ihn neben seinem Alten". Diese Sätze, mit denen Lessing in einem Brief vom 28. Juli 1764 Christian Gottlob Heyne für eine Apollonios-Rhodos-Übersetzung zu gewinnen sucht, können auch als Charakteristikum der 'produktiven Rezeption' der "Poetik" des Aristoteles gelesen werden. In seiner Studie zu Lessing und Seneca ("Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas", 1973) hat Wilfried Barner auf "eine Dreiheit" aufmerksam gemacht, die Lessings Verhältnis zu dem römischen Dichter und Philosophen von Anfang an bestimmt hat: "'Aufklärendes', 'rettendes' Erschließen, produktives Aneignen und agonales 'Modernisieren'" Ohne jede Einschränkung kann diese Trias auch auf Lessings Verhältnis zu Aristoteles appliziert werden. Mit dem amerikanischen Literaturtheoretiker Harold Bloom lässt sich sogar sagen, dass Lektüre eines Vorgänger-Textes ein später und so gut wie unmöglicher Akt, jede Lektüre notwendig eine "Fehl-Lektüre" ist. Je überdeterminierter die Sprache eines Textes, desto weniger determiniert ist tendenziell seine 'Bedeutung'. Einfluss in diesem Kontext bedeutet, dass es keine Texte gibt, sondern nur Beziehungen zwischen Texten, wobei diese Beziehungen von einem Akt der Kritik abhängen, einem Fehllesen oder produktiven Missverstehen, vollzogen von einem Dichter an einem anderen. "Dichtung errettet ihren Wahrheitsgehalt nur, wo sie in engstem Kontakt mit der Tradition diese von sich abstößt", wusste schon Adorno. Nimmt man diese gewiss nicht unmaßgeblichen Gedanken zu Hilfe, so muss man die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lessing und Aristoteles neu formulieren: Es ist nicht entscheidend, wie angemessen Lessing die aristotelische "Poetik" interpretiert, sondern wie produktiv er sie fehl-interpretiert. Eine Antwort auf diese Frage steht allerdings noch immer aus.