Selbstdenker und -henker
Das Offenbacher Symposium zum 125. Todestag des Philosophen Philipp Mainländer
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Nie geboren zu sein ist der Wünsche größter, und wenn Du lebst, ist der andere, schnell wieder dahin zu gehen, woher Du kamst" - in diesen Worten lässt Sophokles in seinem Stück "Ödipus auf Kolonos" den Chor die Weisheit des Silen verkünden. Die Antike war offenbar doch nicht ganz so lebensfroh, wie es das Klischee vom heiteren Griechen will. Das zeigt auch Heraklit, der die menschlichen Torheiten und Eitelkeiten beweinte, da ihm, wie Seneca schrieb, "alles was wir tun", als "Elend" erschien. Und war das Lachen seines Pendants Demokrit nicht vielleicht sogar verzweifelter und nihilistischer als die Tränen des anerkannten Pessimisten aus Ephesos? Zwar beweint Heraklit das ubiquitäre Jammertal und all die Vergeblichkeit menschlichen Hoffens und Strebens, doch in diesem Weinen selbst steckt eo ipso schon etwas Postitives, das dem Lachen Demokrits fehlt, bezeugt es doch das Vorhandensein der Tugend des Mitleids bei wenigstens einem einzigen. Demokrits Lachen hingegen ist um nichts besser als die Verlachten. Er, der - wie es bei Lukian heißt - über den "Atomentanz im unendlichen Leeren" lacht und weil er "alle menschlichen Dinge für nichts bedeutend an[sieht]", wird dafür zwar als "unendlich leerer Kopf" und "großer Windbeutel" beschimpft. Seine verlachte Welt ist aber allemal trostloser als diejenige Heraklits, fehlt ihr doch selbst noch der eine edle Mensch, der all das ausweglose Elend beweint.
Ist eine pessimistische Lebenshaltung also auch in der Antike ohne weiteres nachweisbar, so wurde der Begriff des Pessimismus doch erst im 18. Jahrhundert geprägt und erreichte seine philosophische Blüte mit Schopenhauer und seinen Schülern im darauffolgenden Dezennium. Einem von ihnen, Philipp Mainländer, wurde 2001 anlässlich seines 125. Todestages in seiner Geburtsstadt Offenbach ein Symposium gewidmet, dessen Vorträge nun in einem Sammelband vorliegen. Herausgegeben wurde er von Winfried H. Müller-Seyfarth, der sich in den 90er Jahren das Verdienst erworben hat, Mainländers Schriften erstmals vollständig herausgegeben zu haben (vgl. literaturkritik.de 11/1999) In der Einleitung des vorliegenden Bandes nennt Müller-Seyfarth neben Mainländer die Philosophen Eduard von Hartmann, Julius Bahnsen und Paul Deussen als Angehörige der "Schule Schopenhauers". Sicher hätte man die Liste um den einen oder anderen Namen verlängern können, etwa um den Julius Frauenstädts, der mit seinen ethischen Studien über "Das sittliche Leben" 1866 einen moralphilosophischen Entwurf vorlegte, der sich, wie Frauenstädt in der Einleitung schreibt, "vielfach" mit demjenigen seines amicum philosophum Schopenhauer berührt. Auffällig ist aber vor allem, dass sich in Müller-Seyfarths Liste - ebenso wie in derjenigen der Tagungs-Referenten - nur Philosophen männlichen Geschlechts finden. So hätte etwa die Hartmann-Anhängerin Olga Plümacher genannt werden können, wenngleich sie zugegebenermaßen wenig originell war. Besonders vermisst man aber eine Philosophin, die man mit Fug und Recht als Schwester im Geiste des Geehrten bezeichnen kann. Zumal der Offenbacher Pessimist, dessen geringe Rezeption wiederholt beklagt worden ist, ihr gegenüber geradezu ein philosophischer Popstar war und ist. Die Rede ist von Helene Druskowitz, die als eine der ersten Frauen den Doktorgrad der Philosophie erlangte, eine heute nahezu vergessene Nihilistin, die nicht einmal in Ludger Lütkehaus' monumentaler Monographie über das "Nichts" (vgl. literaturkritik.de 11/1999) Erwähnung findet. Die Verfasserin des "Ethische[n] Pessimismus" (1903) und der "Pessimistischen[n] Kardinalsätze" (1905) hätte auf einem Mainländer-Symposium eine Wiedererinnerung verdient gehabt.
Der Herausgeber geht in dem vorliegenden Buch der Frage nach, "welchen Einfluß Mainländers Philosophie auf Nietzsches Denken hatte". Auch Druskowitz wurde vom Verfasser des "Zarathustra" gelesen. Anders als der Offenbacher Philosoph war die Nihilistin allerdings mit Nietzsche über einen längeren Zeitraum hinweg befreundet - genau so lange, bis sie ihn 1886 in ihrer Schrift "Moderne Versuche eines Religionsersatzes" heftig kritisierte. Für den dionysischen Übermenschen, der dergleichen bekanntermaßen nur schwer ertrug, war sie fortan nur noch eine "kleine Literaturgans". Neben den Gemeinsamkeiten zwischen Mainländer und Druskowitz gibt es jedoch auch einen gravierenden Unterschied: anders als der dezidierte Frauenverächter Mainländer, dessen Misogynität Joachim Hoell im vorliegenden Band kurzerhand als "Phänomen der Zeit" entschuldigt, war Druskowitz eine überzeugte Feministin und eine - hier ist der Ausdruck einmal gerechtfertigt - Männerhasserin ersten Ranges. Nicht umsonst lautete der Titel einer ihrer Publikationen "Die Fällung des Mannes als Tier und Denker" (1900). Und noch ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Denkern besteht: Druskowitz starb nicht von eigener Hand, sondern verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens im 'Irrenhaus'.
Doch auch Mainländers Philosophie sollte in den 125 Jahren seit seinem Tode wiederholt als Ausfluss eines "kranken Gemüt[s]" ad absurdum geführt werden, gerade so, als sei die Prätention auf Wahrheit einer Philosophie und der Wahrheitsgehalt eines Textes nicht an diesem selbst auszuweisen bzw. zu widerlegen. So unternahm es denn auch einer der Referenten, Gerhard Dammann, "ausgehend von neueren psychologisch-psychodynamischen Theorien" zu prüfen, ob eine klinisch-psychoanalytische Herangehensweise "Bausteine zu einer Vertiefung des Verständnis'" Mainländers und seiner pessimistischen Philosophie liefern könne. Sicher ist Dammann zuzustimmen, wenn er den "perfide[n] partographischen Zugang" zurückweist, der einen Denker "'psychopathisch' desavouiert" und so "den Gedanken selbst treffen und zu bekämpfen" versucht. In striktem Gegensatz hierzu vertritt Dammann die Auffassung, unter anthropologischen Aspekten könne der Umstand, dass "schwer Depressive [...] ex ovo zu radikalen Pessimisten oder Nihilisten werden können", die "Plausibilität" ihrer philosophischen Systeme "eher erhöh[en] als verminder[n]". Ein Versuch der Nobilitierung, der allerdings selbst unter mangelnder Plausibilität leidet.
Dem Wahrheitsanspruch von Mainländers Philosophie widmete sich auch Ulrich Horstmann. Er kritisiert Mainländer überraschenderweise allerdings gerade dafür, dass seine "Philosophie der Erlösung" den "verkanteten Wahrheitsstandards der Akademien" Genüge tun sollte. Horstmann sieht im Hauptwerk des "Selbstdenkers und Selbsthenkers" nämlich vor allem ein "ingeniöses und mit letztem existenziellen Einsatz betriebenes Gedankenspiel" im "Niemandsland zwischen Mythos, Philosophie und Literatur", das einen "mythopoetischen Kern" enthalte. Ähnlicher Auffassung ist auch Hoell, der lapidar feststellt, Mainländer sei "in erster Linie Literat" gewesen. Folgerichtig widmet sich sein Beitrag nicht dem philosophischen opus magnum Mainländers, sondern dessen dichterischem und dramatischem Werk - und er wartet mit "verblüffende[n]" Parallelen zwischen Thomas Manns "Tod in Venedig" und Mainländers Novelle "Rupertine del Fino" auf. Diese war 1875 erstmals publiziert worden und wurde 1899 in einer Bearbeitung von Fritz Sommerlad im Morgenblatt der "Allgemeinen Zeitung" (München) erneut abgedruckt, deren Leser Thomas Mann zu dieser Zeit war. Es mag also durchaus möglich sein, dass Mann Mainländers Novelle kannte. Hoells Belege dafür, dass sie Manns "Tod in Venedig" tatsächlich beeinflusste, bleiben allerdings etwas dürftig. Nicht weniger überraschend als der mögliche Einfluss Mainländers auf Mann ist die in der Einleitung von Müller-Seyfarth beiläufig konstatierte Übernahme einige der zentralen Thesen Mainländers durch Karl May, die dieser in seinem Reiseroman "Ardistan und Dschinnistan" einem der Protagonisten in den Mund legt.
Weniger überraschend, dafür von Clemens Brunn aber umso besser an den Texten ausgewiesen ist Mainländers Einfluss auf Alfred Kubin und seinen phantastischen Roman "Die andere Seite". Kubin hatte "Die Philosophie der Erlösung" 1904 erstanden, sogleich verschlungen und bekannt, sie sei der "Trost" seines "Lebens und Sterbens". Habe man "die Sinne dafür geschärft", so Brunn, sei noch in Kubins einzigem - 1909 erschienenem - literarischem Werk "auf nahezu jeder Seite mainländersche[s] Gedankengut" zu entdecken. So entspreche etwa "ein Staat, in dem materieller Wohlstand herrscht, der aber 'durchaus nicht auf die Erhaltung der Bevölkerung'" ausgerichtet sei, "exakt Mainländers Idealbild". Brunn verkennt dabei nicht, dass auch "eine Reihe von Unterschieden" zwischen Mainländers Philosophie der Erlösung und dem philosophisch-pessimistischen Subtext in Kubins Roman bestehen. Mehr noch, offenbar setzte während der Abfassung des Romans bei Kubin ein "Distanzierungsprozeß vom Mainländerschen Denken" ein, an dessen Stelle die radikalere Haltung des Miserabilisten Julius Bahnsens trat, dem "klare[n] Sieger im Wettstreit um den schwärzesten auszudenkenden Pessimismus". Auch bei Kubin läuft Bahnsen Mainländer den Rang ab, dessen "erträumte Vernichtungsseeligkeit" am Ende des Romans durch eine literarische Verarbeitung des ewig währenden und ewig "widersprüchlichen Kampfes zwischen Lebens- und Todestrieb" ersetzt wird, wie Bahnsen ihn in der "Realdialektik" entworfen hat.
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