Was sage ich bloß den jungen Leuten?
Zwei Abiturreden von Wilhelm Genazino und Birgit Vanderbeke
Von Carina Becker
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZum bestandenen Abitur und Abschluss der Schulzeit gehört eine Schulfeier. Ein Rückblick auf die Geschichte der Schule und auf jüngst vergangene Schuljahre fehlt dabei wohl meist ebenso wenig wie gute Worte und Wünsche für den weiteren Lebensweg. Im Saarland will eine Initiative des Saarländischen Rundfunks diesem Ereignis durch eine Abiturrede, die von einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerin gehalten wird, mehr Gewicht verleihen. Den Anfang machten Wilhelm Genazino (1999) und Birgit Vanderbeke (2000). Ihre Reden, von ihnen selbst vorgetragen, liegen nun als Audiobuch vor.
Unterschiedlich reagieren sie auf die Aufforderung, an dieser Schnittstelle im Leben Einzelner wie im Bildungssystem allgemein etwas zu sagen. Zivile öffentliche Zeichen gegen rechtsradikale Gewalt mahnt Wilhelm Genazino an und beschreibt eindringlich subtile faschistoide Mechanismen. Wie funktionieren Ablehnung und Kränkung, eine Bezichtigung oder Schmähung im Umgang miteinander? In Birgit Vanderbekes Rede lassen sich Betrachtungen zu Ästhetik und Moral ebenso entdecken wie zu aktueller Geschichts- und Gedankenlosigkeit. Routiniert ironisch und im Tonfall betont jugendlich nimmt sie Aspekte des Kultur- und Medienbetriebs unter die Lupe.
Das Konzept für die "Abiturreden" setzt gewisse Signale. Die Traditionslinie etwa zu Jean Paul und Herder wird aufgegriffen, zu Autoren, die ihr Brot als Lehrer verdienten und in jedem Schuljahr eine große Rede hielten, so Ralph Schock vom Saarländischen Rundfunk, der die Reihe initiiert hat. Waren im vorigen Jahrhundert zu Weltkriegszeiten Durchhalteparolen angesagt, habe die Abiturrede nach 1945 und vollends nach 1968 mehr und mehr an Bedeutung verloren; das soll sich mit der neuen provokanten oder informativen Abiturrede wieder ändern. Aber wird hier das Abitur nicht nur zu einem Anlass mehr, eine Rede zu schreiben und öffentlich eine Rede zu halten? Der Frontalunterricht ist anderen pädagogischen Modellen gewichen - und da erzählt zu guter Letzt wieder jemand etwas vom Rednerpult herab. Wie sind die Abiturientinnen und Abiturienten eigentlich "drauf", um es salopp zu formulieren. Wo hören sie hin? Wo hören sie weg?
Die Tat von Erfurt, Morde eines des Gymnasiums verwiesenen Schülers, der, während die ehemaligen Mitschüler ihre Abiturarbeiten schreiben, Amok läuft, wird unvermeidlich auch in der noch kurzen Geschichte der Abiturreden Spuren hinterlassen. Das Thema Gewalt hat im Umfeld Schule eine andere Dimension erhalten. Im Zusammenhang mit seinen vorliegenden Ausführungen weist Wilhelm Genazino auf die Stellen in der Biographie hin, an denen eine Person besonders verletzlich und wehrlos ist. Da ordnet er ein nicht bestandenes Abitur, vielleicht ist es auch tröstend gemeint, und jedenfalls im Unterschied zu anderen Beispielen, als verkraftbar ein. Seine Gedanken zu Gewalt sind im Kontext des Rechtsradikalismus und der so genannten Ausländerfeindlichkeit verortet. Er beschreibt zunehmende Gewaltbereitschaft in Alltagssituationen und gibt konkrete Handlungsanweisungen wie ein Einzelner, eine Einzelne als Zeuge und Zeugin reagieren und Öffentlichkeit herstellen kann. Deutlich grenzt er davon eine idealisierte individuelle Tapferkeit und falsch verstandenes Heldentum ab. Gegen faschistoide Aktionen muss vom Zentrum einer Gesellschaft aus vorgegangen werden, die politische Klasse als Ganzes ist gefordert. Die Prognose ist beklemmend, wenn Genazino, im Nachhinein fast prophetisch, neue Morde aus neuen Gründen heraus befürchtet, die schwerer zu verstehen sein werden.
In eine Fortführung der Deutsch- und Englischleistungskurse könnte sich das Publikum bei Birgit Vanderbeke versetzt fühlen. Augenzwinkernd stellt sie zwar Solidarität zwischen Schülern und Schriftstellern her, denn geteiltes Leid tragen sie im Goethejahr, oder wenn durch andere Geburts- und Sterbetage in der dichtenden Zunft Trends ausgelöst und beide sanft gezwungen werden sich zu äußern: in Aufsätzen die einen, in Statements für die Medien die anderen. Dann aber wird Bildungsgut und Schullektüre in Fülle ausgeschüttet, wobei der Eindruck einer Überfrachtung eher als der eines Füllhorns entsteht. Goethe und Shakespeare und Keller und Orwell und Huxley und Illies. Der Titel: "Ariel oder der Sturm auf die weiße Wäsche" - Shakespeares Luftgeist und das Waschmittel - die real-satirische Schräglage der historischen Bezugnahme, die typisch ist für Birgit Vanderbekes ganze Rede, ruft durchaus kulturpessimistische Ahnungen hervor.
Schließlich sei noch auf einige allgemeine Informationen zu den Abiturreden verwiesen. Bei dem Projekt arbeiten der Saarländische Rundfunk und das saarländische Kultusministerium zusammen. Das Ministerium wählt die in Frage kommende Schule aus, die Kulturredaktion macht Vorschläge hinsichtlich der Autoren und Autorinnen und stellt den Kontakt her. Zum Thema gibt es keine Vorgaben, nur die Redezeit ist auf etwa 30 Minuten beschränkt, wegen der Sendezeit später im Saarländischen Rundfunk. Mittlerweile wurden auch zwei Organisationsformen ausprobiert: die Abiturrede integriert als Teil der offiziellen Abiturfeier der Schule oder als eigene Veranstaltung. Für dieses Jahr fiel der Test zugunsten der Form der Einzelveranstaltung aus, zu der besonders Abiturienten und Abiturientinnen mit besten Zeugnissen eingeladen werden.
Die Reden von Wilhelm Genazino, Birgit Vanderbeke und Herta Müller, die die Reihe 2001 fortsetzte, sind übrigens auch als Einzelausgaben im Druck erschienen.
|
||