Was der Dichterfürst seinem Schauen verdankt
Peter Hofmann über Goethes Theologie
Von Ursula Homann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Knabe habe er sich, so erzählt Goethe in "Dichtung und Wahrheit", dem "großen Gotte der Natur, dem Schöpfer und Erhalter", "unmittelbar zu nähern" gesucht. Später, 1811, sprach er von seiner "reinen, tiefen, angebornen und geübten Anschauungsweise", die "mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so dass diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte." Gegenüber Jacobi äußerte der Dichter, er lese der Natur ab, was er an Offenbarung benötige, und verdanke seinem Schauen, was andere ihrem Glauben entnehmen.
Allerdings lässt sich Goethes "Gott-Natur" weder auf einen pantheistischen Monismus reduzieren, noch geht seine Religiosität voll und ganz in seinem Verhältnis zum Christentum auf. Seine proteushafte "Vielgestalt" widersetze sich vielmehr jeder dogmatischen Fixierung. Sein religiöser Pluralismus sei der individuelle Ausdruck seiner Offenheit für das Religiöse allgemein, basierend auf dem allgemein menschlichen Bedürfnis, ein Höheres zu ehren, das die menschlichen Geschicke lenkt und die Natur gesetzlich strukturiert, meint Peter Hofmann in seiner Habilitationsschrift, mit der er im Sommer 2000 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster promovierte.
Da Goethes Denken zeit seines Lebens anschauendes Denken geblieben sei und er die Phänomene nie aus den Augen verloren habe, habe Goethe, der wohl kirchenfeindlich, aber nicht glaubensfeindlich eingestellt war, darauf verzichtet, eine Theologie explizit zu entwickeln. Er berufe sich zwar gelegentlich auf Spinoza, um die Einheit der Natur zu betonen, auf Kant, um die Rolle des erkennenden Subjekts zu klären und auf Schelling, um den Prozess des Werdens oder der "Weltseele" hervorzuheben, doch sei es ihm vor allem um die unmittelbare Nähe zur Gottheit in der Natur gegangen, und er habe erklärt: "Wer die Natur als göttliches Organ leugnen will, der leugne nur gleich alle Offenbarung". Den Menschen wiederum nannte der Dichter "das erste Gespräch, das die Natur mit Gott hält". Freilich habe er diese Aussage gleich wieder eingeschränkt, weil uns "tausend Kenntnisse dazu" abgehen und man von Gott nichts wissen könne.
Diese und ähnliche Bekenntnisse brachten bereits zu Goethes Lebzeiten theologische Kritiker gegen ihn auf. Peter Hofmann, der zunächst ausführlich auf die Rezeptionsgeschichte von Goethes Theologie eingeht, macht deutlich, dass theologische Kritik Goethes Leben und Werk von Anfang an begleitet hat. Vor allem am "Faust", der "weltlichen Bibel", wie Heinrich Gelzer, ein protestantischer Theologe, Goethes Werk einmal nannte, habe sich die konfessionelle Polemik entzündet.
Schon Heinrich Heine und Ludwig Börne empfanden zu ihrer Zeit den Goethe-Kult als "Goethe-Pfaffentum". Dieser habe früh Züge einer quasi säkularen Religion gezeigt. Für literaturfromme Gebildete war das Werk Goethes tägliche Lektüre. An prominentester Stelle steht hier, laut Hofmann, Eckermann. Zudem gab und gibt es mitunter heute noch regelrechte Wallfahrten zu den Goethe-Stätten.
Friedrich Nietzsche wiederum habe in Goethe den Überwinder und Weltbejaher gefeiert, als Paradigma des Menschlichen schlechthin. Diesem Leitthema folgten viele Goethe-Biographen seit dem späten 19.Jahrhundert, unter ihnen mit besonderer Ausdrücklichkeit und Nachwirkung Houston Stewart Chamberlains Werk von 1912. Ein solches, von Nietzsche vermitteltes und von Chamberlain geformtes Goethebild prägte dann die Geschichtsmorphologie Oswald Spenglers.
Erst nach 1945 bemühten sich Hans Urs von Balthasar, Reinhold Schneider und andere um ein neues Goethe-Verständnis. Aber nicht nur von Theologen sei der "alte Heide" von Weimar wahrgenommen worden, auch außerhalb der theologischen Fachkritik sei Goethes Weltanschauung als nachchristlicher Glaube, der Naturforschung mit religiöser Ehrfurcht verbindet, begriffen worden. Die englische Literaturwissenschaftlerin Ilse Graham urteilte sogar: "Gerade in seiner heranziehenden Liebesgewalt war dieser Heide ein durchaus christusartiger Mensch. Immerhin erkannte er Unscheinbares in seinem Glanz, hob es auf und heiligte es."
Hofmann, der Goethes Leben mit seinem poetischen und naturwissenschaftlichen Werk als eigenständigen Beitrag zum theologischen Gespräch wertet, betont, dass weder in der katholischen noch in der evangelischen Kritik die Frage nach dem Christen Goethe heute noch "auf dem simplen Instrument der Antithesen" gespielt werde. Die Zeit der polemischen Abweisungen und Aneignungen scheine vorüber zu sein. Der Verzicht darauf, vorschnell zwischen fremdem und eigenem Anspruch zu harmonisieren, präge gegenwärtig die spärlichen theologischen Wortmeldungen zu Goethe. Der künftige theologische Interpret bedürfe weder eines apologetischen Motivs noch einer fertigen dogmatischen Messlatte.
Peter Hofmann selbst leitet Goethes Religiosität aus dessen ureigener Naturforschung ab und entziffert im zweiten Teil seiner Studie die "Farbenlehre" als Symbol aller Wissenschaften sowie als Grundtext für Goethes unübertragbare Religiosität. Hier habe Goethe förmlich einen Glaubenskampf mit solcher Leidenschaft geführt, "als ginge es um die Frage des menschlichen Heils." Viel spricht, laut Hofmann, dafür, von der "Farbenlehre" als Schlüsseltext her die natürliche Theologie Goethes zu entwickeln. Da Goethes Naturforschung oder Naturphilosophie auf die Einheit der "Gott-Natur" ziele, dürfe wohl von einer natürlichen Theologie die Rede sein, ohne ein missverständliches deus seu natura zu provozieren.
Im großen und ganzen aber konzentriert sich der Autor auf das theologische Profil Goethes, wie es sich in dessen Gesamtwerk abzeichnet, und stellt fundamental-theologisch heraus, was man von Goethe unbefangen und kritisch lernen könne, auch wenn Goethes Zeugnisse zum Phänomen der Religion so disparat und unüberschaubar und an Kontexte, Rollentexte, Adressaten und Gelegenheiten so sehr gebunden seien, dass sie sich zu verschiedensten Ganzheiten ordnen ließen.
Goethe habe nämlich nichts aus dem Kreis denkender Betrachtung ausgeschlossen, weder Anschauungsweisen noch Gegenstände, im Gegenteil: sein perspektivisches Denken, das "an einer Denkweise nicht genug" gehabt hat, entdeckte, wie er an Jacobi vom 6. Januar 1813 schrieb, in den "himmlischen und irdischen Dingen ... ein so weites Reich, dass die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen."
Goethe ließ sich fraglos weder vereinnahmen noch zu einem konfessionellen Bekenntnis nötigen. Da er vielseitig theologisch interessiert und überaus belesen war, hat er sich weder an den rationalistischen noch den pietistisch-schwärmerischen Entwürfen seiner Zeit orientiert. Vielmehr nötigte ihn die Kluft, die ihn von den kirchlichen Konfessionen trennte, sich ein Christentum zu seinem "Privatgebrauch" zu bilden. "Bibelfest, wie ich war, kam es bloß auf den Glauben an, das, was ich menschlicher Weise zeither geschätzt, nunmehr für göttlich zu erklären", bekannte Goethe. Denn "der Protestantismus, den man uns überlieferte", war "eigentlich nur eine Art von trockner Moral". Er habe "zu wenig Fülle und Konsequenz, als dass er die Gemeinde zusammenhalten könnte." "Der symbolische und sakramentale Sinn" des Christen werde in ihm nicht genährt. Am katholischen Glauben störte ihn dagegen "ein unförmliches, ja barockes Heidentum", in dem jede ursprüngliche Spur erloschen sei.
Auch bündelte sich in der (Erb-)Sündentheologie und der ihr korrespondierenden Kreuzestheologie genau das, was Goethe als konfessionelle Erstarrung alles Christlichen ablehnte. Denn beide schienen ihm die reine Produktivität der als göttlich empfundenen Natur und das eigene Genie zu lähmen oder zu denunzieren.
Kein Wunder, meint der Autor, dass eine direkte Frage nach der Konfession Goethes in seinem Werk und Denkansatz ihm nicht gerecht werde und man den Ertrag seines Denkens theologiegeschichtlich einfachen Kategorien weder zuordnen, noch vorgegebene theologische Maßstäbe an sein Werk legen könne. Von einer Theologie Goethes könne nur gesprochen werden in dem Sinne, wie sie als Kohärenz seines Werkes interpretierend expliziert werden könne. Kurzum: seine Theologie sei sein Werk als Ganzes.
Im vertraulichen Briefwechsel oder Gespräch hat Goethe gerne zugestanden, es fänden sich in seinen Werken "mehr oder weniger esoterische Bekenntnisse", und hat dabei auch immer wieder auf seine "Farbenlehre" verwiesen.
Als Knabe, führt der Autor weiter aus, habe sich Goethe an den ersten Glaubensartikel gehalten und eine erste tiefe Erschütterung durch das Erdbeben von Lissabon 1755 erfahren. Goethes Autobiographie sei Konfession im doppelten Sinne: ein Geständnis als exemplarische Diagnose religiöser Krisen, die das Subjekt mit seiner Zeit teilt, und ein Bekenntnis religiöser Gesinnung ohne "konfessorische" Eindeutigkeit. Als "wahnsinniger Religions-Verächter" wegen seiner Straßburger Dissertation "De Legislatorisbus" bezeichnet, formte er früh für "seinen" Christus eine eigene Gestalt und entfernte sich von dem Bekenntnis, das er "mit allzu großem Ernst, mit leidenschaftlicher Liebe zu ergreifen gesucht" hatte.
Herders dynamischer Spinozismus und Kants kritisches Denken führten Goethe dann zu seiner eigenen, skeptisch-verschwiegenen Naturphilosophie, die im Symbol das Ganze schauen will. So habe das "Buch der Natur" seit dem Beginn seiner Weimarer Jahre dem Dichter mehr und mehr das "Buch der Bücher", die Heilige Schrift, ersetzt. Ganz besonders ist die frühe Weimarer Lyrik gegenständlich und bleibt der Erde verhaftet: "Denn mit Göttern / soll sich nicht messen / Irgend ein Mensch."
Hofmann erläutert die einzelnen Etappen in der religiösen Entwicklung des Dichters, wie etwa seine geistige Neubesinnung durch die Italienfahrt, und führt aus, dass Naturforschung, Dichtung und Denken ihn schließlich zu der Einsicht führten: "Das schönste Glück des denkenden Menschen ist das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren." Der "Faust"-Schluss bilde dann die gültige Gestalt einer offenen Erfüllbarkeit, die sich im Abbrechen früherer Werke nur andeutet. Doch nicht der Herr spricht am Ende das Urteil, sondern "selige Dämonen". Engel singen: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen."
Unermüdliches Streben kennzeichnet demnach für Goethe den Menschen und dessen Unsterbliches als Entelechie. Über abgründige Schuld und erkennende Umkehr schweige freilich das Faust-Drama. Die Lücke zwischen Tod und erlöster Verklärung Fausts klaffe wie eine offene Wunde. Was Heilung bringen könne, werde hier angedeutet und zugleich verhüllt. Wem es um das theologische Gespräch mit Goethe zu tun ist, müsse, meint Peter Hofmann, hier mit ihm über ihn hinaus weiterfragen. Doch habe Goethe, legt der Verfasser weiter dar, nicht das Symbol des Leidens und des Todes abgelehnt, sondern seine ehrfurchtslose Veröffentlichung, und zwar mit ungewöhnlicher und geradezu leidenschaftlicher Schärfe. "Mir bleibt Christus", so sagte Goethe einmal, "immer ein höchst bedeutendes, aber problematisches Wesen." Dagegen erscheint der Tod als ein häufiger Gast in Goethes Werk, auch der Gedanke an die Unsterblichkeit der Seele ist dem Dichter nicht fremd gewesen.
Die Bildergalerie der Pädagogischen Provinz zeigt, nach Hofmann, das Wesen der christlichen Religion in ihren Erscheinungen und erreicht ihren höchsten Punkt im Bild des Abendmahls, während über das bildzerstörende Leiden Jesu Christi im letzten "Heiligtum des Schmerzes" ein Schleier gezogen wird. So bringt die Religionslehre der "Wanderjahre" christologische Fragen doppelt ins Spiel, indem sie von der Religion Christi als philosophischer Lebenspraxis her das Bild des Weisen und des guten Lebens aufstellt und in der Religion der Ehrfurcht vor dem, was ,unten' ist, diskret und verhalten das Kreuz mehr verschweigt als anspricht.
In den letzten Lebensjahren hat der Dichter, laut Peter Hofmann, versucht, das Unanschauliche anschaulich zu machen und einen biblischen Zyklus zu entwerfen, der einlöst, was die zweite Galerie der Wanderjahre literarisch verspricht. Den Symmetriepunkt der Figurenordnung bildet "Christus selbst" - nicht im Sinne von Luthers Kreuzestheologie, sondern "als hervortretend aus dem Grabe". Damit geht Goethe einen entscheidenden Schritt über die protestantische Theologie seiner Zeit hinaus.
Auch wenn die Welt als Selbstoffenbarung Gottes Goethes "Faust" verschlossen bleibt, so erlebt der Dichter selbst jedoch Welt-Anschauung als staunendes Wahrnehmen des Göttlichen und übt das "Frommsein" als praxis pietatis, das in der "Ehrfurcht" gründet, indem sie das Andere anders sein lässt. Denn das Grundwort, das Goethes sekretierter Überzeugung entspricht, ist "Ehrfurcht", Respekt vor Menschen und Dingen, die auch seine Sprache prägt, die plastisch und anschaulich ist, nicht rhetorisch oder hypothetisch, und die sich nicht der Dinge und der Menschen bemächtigt, sondern sie duldet und anerkennt. Goethe legt hiermit ein Bekenntnis zur Einheit von Religion und Humanität ab, in der Überzeugung, dass Humanität die Göttlichkeit des Menschen und des menschgewordenen Gottes ausmacht.
Auch in der "Pädagogischen Provinz" soll den Zöglingen Ehrfurcht nahe gebracht werden für die "Ausübung der Pflichten". Aber die Haltung der Ehrfurcht ist schweigend und zieht einen Schleier über das letzte Geheimnis des Leidens. Ist doch Goethes Schweigen, nach einem Ausspruch von Josef Pieper, "vor allem eine Einübung ins Hören" und ein Verstummen vor dem, was nicht sagbar ist.
Beeindruckend an diesem Buch ist zweifellos sein Gedanken- und Materialreichtum. Ein Sach-, zumindest aber ein Personenregister hätte ihm indessen wohl angestanden.