Verlorene und gerettete Zeit

Brassaïs Essay über Marcel Proust und dessen Liebe zur Fotografie

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wer sich nicht näher mit Brassaï befasst hat, dürfte gewiss das eine oder andere Bild des Mannes kennen, der 1899 unter dem Namen Gyula Halász als Sohn eines Literaturprofessors im transsylvanischen Brasso geboren wurde. Bekanntheit erlangten vor allem seine Fotos vom nächtlichen Paris, die 1933 unter dem Titel "Paris de nuit" erstmals die Fotoliebhaber begeisterten und heutzutage als Kunstdrucke weltweit alle nur erdenklichen privaten und öffentlichen Räume schmücken. Brassaïs fotografischer Stil ist eigenartig im wahrsten Sinne des Wortes, denn er ist unverkennbar und unverwechselbar. Seine künstlerische Ausdrucksform ist die Schwarz-Weiß-Fotografie. Kontraste scheinen dem an den Akademien zu Budapest und Berlin ausgebildeten Kunstmaler wichtiger als die zuweilen schrillen Effekte des Farbspektrums. Brassaïs Bilderwelten sind oftmals menschenleer. Sie fokussieren Treppenaufgänge im abendlichen Licht der Straßenlaternen, Hinterhöfe im diffusen Schein winziger Lichtquellen oder Straßenzüge in der Dämmerung. Einen Widerpart zu den Architekturaufnahmen bilden die Porträts. Auf ihnen trifft man die Menschen seiner Wahlheimat Paris wieder, Menschen, denen das Leben in der Metropole lesbar ins Gesicht geschrieben ist, sei es als Schwelgen in Eleganz, Genuss und schier unbändiger Lust, sei es als täglicher Kampf um das Dasein. Wohl zu Recht gilt der gebürtige Ungar daher als einer der brillantesten Dokumentare des Pariser Nachtlebens.

Den Schriftsteller, Essayisten und scharfsinnigen Kunstkritiker Brassaï kennt dagegen kaum jemand, obwohl doch das Schreiben fortwährend seinen künstlerischen Entwicklungsprozess begleitet hat. "Marcel Proust sous l'emprise de la photographie", das 1997 bei Éditions Gallimard in Paris erschien und dank der vorzüglichen Übersetzung von Max Looser nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt, bietet eine willkommene Gelegenheit, Einblick in die Textwelten des bedeutenden Lichtbildners zu nehmen. Das Buch entstand anlässlich der Wiederlektüre von Prousts "Recherche", zu der sich Brassaï entschlossen hatte, nachdem ihm eine schwere Erkrankung das Verlassen seiner Wohnung fast unmöglich gemacht hatte. Kurz nach seiner Vollendung im Juli 1984 starb der Fotograf denn auch. "Marcel Proust sous l'emprise de la photographie" gehört in die Reihe seiner Monographien über große Künstlerpersönlichkeiten der Gegenwart. Aus einer ähnlichen Bewunderung wie für Proust waren schon seine Betrachtungen über Pablo Picasso und Henry Miller hervorgegangen.

Was Brassaï in erster Linie an Proust fasziniert hat, war die tief empfundene Wesensverwandtschaft zwischen ihm und dem Schriftsteller, ihrer beider Liebe zum beobachteten Detail und fast schon obsessive Versessenheit nach Bildern. Als Proust im Juli 1871 das Licht der Welt erblickte, dem Jahr, da mit der Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles eine neue Epoche der Geschichte eingeleutet wurde, lag der Ankauf der Erfindung der Fotografie durch die französische Regierung gerade einmal drei Jahrzehnte zurück. Das neue Medium, dessen Vorzüge der Physiker und Politiker Dominique François Arago vor der Deputiertenkammer nachdrücklich gepriesen hatte, war Proust also von Kindesbeinen an vertraut und hatte, als er sich kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs an den Romanzyklus "A la recherche du temps perdu", die monumentale Quintessenz seines schriftstellerischen Schaffens, machte, längst die Malerei als traditionelle Form bürgerlicher Repräsentation abgelöst. Brassaï zeigt in seinem Essay nicht nur, wie sehr die Fotografie Leben und Schreiben Marcel Prousts durchwirkt hat, sondern auch, wie dieser in seinem Denken bereits wesentliche Positionen solch bedeutender Fotografietheoretiker wie Walter Benjamin und Roland Barthès antizipiert. Auf der Grundlage einer intensiven Lektüre der "Recherche" weist er ein enges Beziehungsgeflecht zwischen den innovativen erzählerischen Techniken Prousts und denen der Fotografie nach: So erzählt Proust aus verschiedenen Blickwinkeln, indem er laufend seine narrativen Brennweiten verändert. Auf panoramatische Makroskopien folgen Fokussierungen von Details. Zahlreiche Metaphern, deren sich der französische Romancier in der "Recherche" bedient, wie etwa der "Schnappschuß", die "Momentaufnahme" oder die "Dunkelkammer" zeigen sich inspiriert vom Jargon fotografischer Technolekte. Proust bedient sich ihrer vor allem dort, wo das herkömmliche Inventar der Sprache zur Kennzeichnung bestimmter Formen der visuellen Wahrnehmung nicht mehr ausreicht. Gemeinsamkeiten von Literatur und Fotografie entdeckt Brassaï insbesondere in der Fähigkeit, Zeit zu konservieren: Bilder wie Texte fixieren den flüchtigen Augenblick und verleihen ihm Dauer. Vor diesem Hintergrund lässt sich die "Recherche" als eine Art Riesenfotografie verstehen.

Brassaï favorisiert in seinem Essay eine autobiographische Lesart der "Recherche". In seinem fast schon anekdotischen Durchgang durch Prousts Leben und Werk rekonstruiert er nicht nur dessen Individualgeschichte, sondern öffnet zugleich den Blick auf die Geschichte der Fotografie. So erfährt der Leser gewissermaßen en passant, wie umständlich die fotografische Technik in der Frühzeit zu handhaben war und vor welche Problemen sich der Fotograf vor allem in der Porträtkunst gestellt sah. Wie sehr die Fotografie Leben und Werk Marcel Prousts miteinander verband, wird nicht zuletzt an dessen persönlichem Umgang mit Lichtbildern deutlich. So suchte der Romancier einerseits sogleich einen Fotografen auf, wenn jemand bei ihm um ein Porträts angefragt hatte. Andererseits erbat er sich Fotos von Freunden, Bekannten und Korrespondenzpartnern, vorgeblich, "um die Erinnerungen eines Vergeßlichen zu fixieren", oder bemühte sich um einen Tausch. Verweigerte sich jemand seinem Wunsch, dann war er notfalls bereit, Fotografien zu stehlen. Die Aneignung von Fotografien kam für Proust zuweilen einer Aneignung der darauf abgebildeten Personen gleich. Das Bild als ideales und zugleich wehrloses Double gestattete ihm, vom Objekt seiner Begierde, sei es nun Mann oder Frau, wenigstens in effigie Besitz zu ergreifen, wenn er aus welchen Gründen auch immer seiner realiter nicht habhaft werden konnte. So wurde die Begegnung mit der Fotografie für ihn zu einer perpetuierten Begegnung mit dem geliebten Menschen. Die Kehrseite der Bildverehrung bildete Prousts Neigung zur Entweihung von Bildern, in der latente sadomasochistische Obsessionen des Autors ein Ventil fanden.

In schreibtechnischer Hinsicht dienten Proust die Fotografien als Vorlagen für Personen und Ereignisse. Seine Alben bildeten das Reservoir, aus dem sich seine Imaginationskraft speiste. Blickt man auf das fotografische Material, über das Proust verfügte, so läßt sich manche literarische Figur mühelos als ein Mosaik verschiedener Vor-Bilder identifizieren, wobei der Romancier selbst vor Geschlechtermutationen nicht zurückscheute. Auffällig oft hat er seine literarischen Frauenfiguren nach Männern modelliert und auf diese Weise seine uneingestandene Invertiertheit sublimiert.

Brassaïs Essay gestattet einen tiefen Blick in die Faktur und Tektonik des Proustschen Romanwerks. Ähnlich wie Proust bis in die letzten Lebenstage an der "Recherche" gearbeitet hat, hat der vom Tode bereits gezeichnete Fotograf dieses Buch seiner noch verbleibenden, freilich unaufhaltsam verrinnenden Lebenszeit abgerungen. Der Schrecken über das Herannahen des Todes, der beide befiel, war zugleich ein Schrecken über die Endlichkeit von Zeit überhaupt. Nur im Medium der Kunst ließ sich diese bewahren, sogar - und darin barg sich wenigstens ein schwacher Trost für den Schriftsteller wie für den Fotografen - über den Moment des eigenen Vergehens hinaus.

Titelbild

Brassai: Proust und die Liebe zur Photographie.
Übersetzt aus dem Französischen von Max Looser.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
189 Seiten, 20,80 EUR.
ISBN-10: 3518412175

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