Städtebilder und lyrische Collagen

José F. A. Olivers Gedichtsammlung "Fernlautmetz"

Von Heike HendersonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Henderson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Worte, Laute und Klänge, Rhythmus und Melodie, Sprachschöpfungen und Brüche: das sind die Grundlagen der Poesie José F. A. Olivers. Als Sohn spanischer Gastarbeiter im Schwarzwald geboren und zweisprachig aufgewachsen, ist der mit vielen Preisen und Stipendien ausgezeichnete Oliver nicht nur der bekannteste spanisch-deutsche Schriftsteller, sondern einer der wichtigsten zeitgenössischen Poeten deutscher Sprache schlechthin. Nachdem die meisten seiner früheren Bücher im Verlag Das Arabische Buch erschienen sind, ist nun "Fernlautmetz" das erste Werk des Autors, das im renommierten Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde. Es beinhaltet vier Gedichtzyklen unterschiedlicher Länge, bestehend aus jeweils 10 bis 25 Gedichten, sowie unter dem Titel "der eichhörnchenfütterer" 13 Antworten auf die Frage, warum er schreibe. Die meiner Ansicht nach treffendste ist Antwort 13: "weil ich liebe und liebe und liebe ...". Den Zyklen vorangestellt ist das Gedicht "fremdw:ort", welches ein gutes Beispiel für Olivers Umgang mit Worten und Bildern gibt:

fremdw:ort
das so leicht nicht sag-
bar ist und wird
aus den angeln
gehobene nähe

Wie in vielen seiner Gedichte wird auch hier Sprache zerstückelt und dadurch entautomatisiert. Inhalt und Form sind meisterhaft verknüpft, trotz aller Virtuosität bleibt es nicht bei bedeutungslosen Sprachspielen. Oliver bearbeitet den Laut wie ein Steinmetz den Stein, er ist ein Sprachbaumeister, der neue Bilder kreiert und Geschichten erzählt, oft in wenigen Worten. Es sind Gedichte zum Hören (unter dem Titel "fernlautmetz" gibt es auch eine CD vom Autor, erschienen 1999 bei FenderTon Stuttgart), die gleichzeitig eine starke visuelle Komponente haben. Besonders der Einsatz des trennenden Doppelpunkts inmitten von Wörtern wie "auf:hören" und "g:reift" ist ein Markenzeichen Olivers - wirksam, allerdings etwas zu oft eingesetzt.

Inhaltlich sind die Gedichte Schnappschüsse unserer multinationalen Wirklichkeit. Sie sind Reisenotizen, Städtebilder von Berlin, Dresden, Madrid und Amsterdam, von La Paz, Lima, Bogotá und anderen lateinamerikanischen Städten. Darüber hinaus gibt es Auseinandersetzungen mit Sprache, mit Erinnerung und mit der Geschichte, insbesondere dem Holocaust. Es gibt schlau inkorporierte Hommagen an Walter Benjamin, Paul Klee und den "Engel der Geschichte", an Paul Celan, Federico García Lorca und Friedrich Hölderlin, an Kurt Tucholsky, Friederike Mayröcker und Olivers eigenen Vater. Die Gedichte sind nicht immer leicht zu verstehen, sie verlangen ein genaues Hinsehen und Hinhören, Hineinsehen und Hineinhören, und doch prägen sie sich vielleicht gerade dadurch ein, setzten sich fest unter der Oberfläche, wollen wiedergelesen und weitergedacht werden.

Die Auseinandersetzung mit Orten und Plätzen zum Beispiel findet nicht nur gedanklich statt, sondern hat ihren Ausgangspunkt im körperlichen Erfahren. Ein gutes Modell hierfür ist das kurze Gedicht "rastkunft paz. La Paz":

rastkunft paz. La Paz
den ort
klaratmen
fuß nach kopf
um die gedanken
den ort
hautspüren

In wenigen Zeilen werden verschiedene Sinne einbezogen und angesprochen. Wie schon in früheren Gedichtbänden verwendet Oliver gleichermaßen Spanisch wie Deutsch und in einem anderen Gedicht auch Französisch, ohne Übersetzung. Die Zentralität des Deutschen wird dadurch geschickt unterminiert und in Frage gestellt. Das vielleicht jedoch herausstechendste Merkmal, neben den Brüchen und dem Umgang mit Lauten, sind seine Wortschöpfungen wie "hautspüren" und "klaratmen". Dieser eigenwillige Umgang mit der deutschen Sprache erinnert an Zehra Çirak, eine junge Autorin mit gemischtem sprachlich-kulturellen Hintergrund (in ihrem Fall Türkisch und Deutsch). Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass der durch Olivers Lebenserfahrung erworbene doppelte Blick auf Sprache und Wirklichkeit solche eindringlichen Kreationen ermöglicht und dadurch ein Lesevergnügen ganz besonderer Art. Oliver will nicht erklären, sondern mit offenen Sinnen Sprache und Welt erkunden. Abgeschlossen wird der Gedichtzyklus "fernlautmetz" mit Olivers persönlichem Diktum: "als letzter spricht der dichter / und nicht der totengräber".

Titelbild

Jose F.A. Oliver: Fernlautmetz. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
113 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3518122126

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