Lebenskunst, Lesekunst

Robert Gernhardts Gedichtband "Im Glück und anderswo"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Glückliche phantasiert nie", heißt es bei Freud, woraus folgt, dass wir keine Dichtung hätten, wenn alle Menschen glücklich wären. Wir produzieren, so will es die traditionelle Ästhetik, im Gegenglück, und das Glück ist dieser Vorstellung zufolge quasi nur als Alternative zur 'Realität' denkbar: Sie entspringt direkt der Unglücksgrundierung des Daseins.

Wäre dem so, dann müsste die große Produktivität des Lyrikers Robert Gernhardt auf eine Existenz im Gegenglück, im 'Anderswo' zurückzuführen sein, und das Glück bezöge sich auf ein Geglücktes, auf ein Moment der Darstellung: Schweres wird leicht, Leichtes wird schwer. Verlusterfahrungen werden mit Komik abgefedert, Übermut und Überschwang durch Melancholie geerdet.
Beim Anblick des Fregattvogels
Den hat kein grübelnd Hirn ersonnen,
der ist aus Stoff und Sturm geronnen
zu reinem Flug.
Der ist der Inbegriff des Schwebens,
des Höher-, Schneller-, Weiterlebens,
und ich karieche.
Der wahre Vogel und sein Betrachter, der Homo ludens, der spielende und dadurch schöpferische Mensch, dem alles zuzufliegen scheint, ergänzen sich kongenial: Ein Blick genügt, und es gelingt ein wunderbar anmutiges Gedicht, das selber der Idee des Vogels entspricht, so unangestrengt, luftig und doch stofflich erhebt es sich zu seinem Flug.

Robert Gernhardt setzt, so will es seine Wahrnehmung in der Literaturkritik, Komik inzwischen verhaltener ein. Neue Töne seien hinzugekommen, feine Schattierungen von komisch über melancholisch bis zu ganz ernst - und nicht selten alles in nur einem Gedicht. Von der Satire habe er sich verabschiedet wie von der Malerei, und selbst Comic und Bildgedicht wären auf dem Rückzug.

Auch der jüngste Gedichtband, "Im Glück und anderswo", scheint diese Tendenz zu bestätigen, bietet er doch gleich vier Kapitel auf, deren Texte überwiegend Krankheit, Sterben und Tod thematisieren. Auf die Kammlinie des Lebens ("In Fahrt") folgt topologisch die Talfahrt der Sterblichen, und diese Sterblichkeit ist es dann wohl, die uns letztlich eint. Alle "Hoffnung auf Verschonung" kann sich nur auf kleinere Übel beziehen, das große Los des Todes aber zieht ein jeder. Die Zeit rennt, auch hier, und den Sprecher erreichen Todesmeldungen von guten Freunden ("Erinnerung an Wolf"; "Frieder"; "Kurt"). Für die Fliegen ist er sowieso schon tot, und sogar noch das Schneiden der Fußnägel weckt die Erinnerung an Kurt, der - "grad mal dreiundfünfzig" - beim Angeln in Irland starb. In unmittelbarer Nähe des Dichters sterben seine Tiere, darunter die "arme Schimmi", mit "Würmer[n] bereits in Lunge und Kopf". Der Blick aufs Tier, die Erinnerung an all die "Katzenbegräbnisse" gemahnen an die eigene Sterblichkeit: "da fiel sein Blick auf sein Knie. / Dieses glatte Fleisch! Er würde es / mit anderen Augen sehen von Stund an". Die Tiere, durch ihre Vollkommenheit und Grandezza zeitweilige Begleiter des Dichters auf seinem Weg zum Parnass, geben ihm Grund zur Trauer, große Dichtung entsteht:
Vollkommen war er, der Hund, sein Körper
vollkommen gebaut. Ums Knochengerüst,
vollkommen gebildet, legten sich Muskeln
so vollkommen zweckmäßig, dass wer ihn ansah,
den Hund, vollkommen bezaubert war.
Fast tut es weh, wenn man das Schöne betrachtet. Dem genauen, anatomisch-ästhetischen Blick kann freilich auch der Makel nicht verborgen bleiben: Eine "kahle Stelle" im Fell verdirbt den schönen Glanz, "vollkommen gefühllos / glotzt der Verfall", und so ist es vom Schönen zum Hässlichen nur ein Blick. "Vollkommen hypnotisiert" starrt der Sprecher auf die "vollkommen nackte Haut", auf die wachsende Blöße mitten im Fell: "Treu schaut der Hund" - bis der Verfall den Betrachter mit einem leicht abgewandelten Goethewort konfrontiert: "Warte nur balde, / und ich beherrsche das Feld vollkommen".

Wo selbst das Vollkommene auf den Hund kommt, wo "das Schöne schwindet, scheidet, flieht", wo schon ein kleiner Auswuchs am Zeigefinger der Normalität eine schlechte Prognose stellt ("Prognose"), da lässt sich das Glück nicht steuern, das Alter nicht abwenden. Auf den Sprecher warten der Verlust der "Lebenskraft" ("Sechster Dezember") und das "Totenreich". Der Reigen der Verlustmeldungen von guten Freunden wird durch die "Erinnerung an Wolf" bereits im zweiten Kapitel eröffnet, und da erscheint es sinnlos, wie der herzkranke Bauer Guiseppe "gegen den Tod" anzurennen ("Guiseppes Botschaft"). Im "Selbstportrait zum vierten" blickt ein "schwerer, alter Herr" auf seine Jugend und sein Leben zurück; er thematisiert das Herz als innere Stimme ("Hast nur aufs Herz gehört"), personifiziert es ("es sehnte sich nach Ruh"), fasst es als Sitz seiner Gemütsbewegungen ("Dein Herz war wund") und zuletzt als krankes Organ: "Dein Körper hielt dem Herzen stand. / Das arme Herz genas. / Verdenke deinem Körper nicht, / was der zusammenfraß". Dieser Raubbau an der eigenen Natur war schon Gegenstand des "Herz in Not"-Zyklus im Rahmen der "Lichten Gedichte" (1997).

Ganz offensiv operieren solche Gedichte mit Daten der eigenen biographischen Realität und stützen die Fiktion, dass der Autor hier das eigene Gegenglück dargestellt habe. Deshalb auch sind nicht wenige Texte schon im Titel datiert und/oder räumlich situiert und nähern sich dem Lebensreisethema von der auto[r]biographischen Seite an. Ob das Leben glücken kann, bleibt dabei offen und fraglich. Wichtig ist, dass es der Dichtung glückt, mit selten gewordener formaler Kompetenz gegenwärtige Befindlichkeiten behende einzufangen und persönliche Problemstellungen pragmatisch zu bewältigen. Der poetische Witz bleibt auch hier unverzichtbar. Wie seit jeher versucht Gernhardt den Spagat zwischen Ernst und Komik: Poetische Chuzpe, stilistische Eleganz und anarchischer Witz erzeugen ein Gefühl von Leichtigkeit, während die großen Lebensthemen, Probleme und Problemlösungen, die hier zur Darstellung drängen, zum stimmigen Bild die Grundierung liefern.

Titelbild

Robert Gernhardt: Im Glück und anderswo. Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100255038

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