Demokratie ist Sprachkultur

Der Romanist und Sprachwissenschaftler Harald Weinrich wurde 75 Jahre alt

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon die Lektüre seines Schriftenverzeichnisses ist ein Genuss: "Das Ingenium Don Qijotes" (seine Dissertation); "Literatur für Leser"; "Münze und Wort"; "Für eine Grammatik mit Augen und Ohren, Händen und Füßen - am Beispiel der Präpositionen"; "Wege der Sprachkultur"; "Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist?"; "Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit"; "Gibt es eine Kunst des Vergessens?"; "System, Diskurs und die Diktatur des Sitzfleisches"; "Hoch und Niedrig in der Literatur"; "Narrative Theologie"; "Blödeln, Bummeln, Gammeln"; "Thales und die thrakische Magd: allseitig Schadenfreude"; "Bruder Celan"; "Von der Leiblichkeit der Sprache"; "Das Wörterbuch als Walfisch".

Da sage noch einer, Sprachwissenschaft könne nicht verführerisch sein. Harald Weinrich, der bedeutende Romanist und Linguist, der Erfinder und Begründer des Faches Deutsch als Fremdsprache, dessen Bücher und Aufsätze weit über die Grenzen seines Faches hinausstrahlen, wurde 75 Jahre alt. Natürlich weiß ein solcher Pädagoge von Rang um die Langeweile des Unterrichtsalltags (er hat sie in einem Aufsatz beschrieben), und selbstverständlich kann er die 'Trockenheit', die aus der Komplexität der linguistischen Forschung erwächst, nicht aus der Welt schaffen. Aber er kann überzeugend vermitteln, dass Fachkenntnisse, philologische Akribie, Sitzfleisch, Sammelleidenschaft, handwerkliches Ethos und verwandte Tugenden eine brisante Mischung zu ergeben vermögen. Sein Eros der Lehre und des Lernens teilt sich selbst denen noch mit, die ihn zwar nicht als akademischen Lehrer erleben durften, aber sich doch von seinen Büchern und Aufsätzen affizieren lassen: Ganz bewusst wendet sich Weinrich mit seinem "Lethe"-Buch (über die "Kunst und Kritik des Vergessens") und seinen Essays im "Spiegel", im "Merkur" oder in den großen Tages- und Wochenzeitungen auch an eine breitere Öffentlichkeit. Er ist der lebende Beweis dafür, dass eine strukturale Sprachwissenschaft weder lebensfeindlich noch kulturfeindlich ist. Als wichtigster Botschafter seines Faches wurde er - als erster Deutscher überhaupt - 1992 ans Collège de France berufen.

Weinrich verfasste zwei Grammatiken: eine Textgrammatik der französischen und eine der deutschen Sprache. Letzterer hat er ein ebenso schönes wie vieldeutiges Motto vorangestellt: "Ein Käfig ging einen Vogel suchen." Das Kafka-Wort am Eingang einer Textgrammatik bedeutet, dass sich der Vogel zum Käfig wie die Sprache zur Grammatik verhält. Die Paradoxie des Bildes, der zufolge das starre Element zum aktiven und mobilen Handlungsträger wird, sagt viel über Weinrichs Verständnis von Kommunikation und ihren Regeln aus: Der Käfig, so scheint es, der sich hier auf die Socken macht, will den Vogel nicht einsperren, sondern will ihm ein Zuhause sein.

Ein Kafka-Wort im linguistischen Kontext, das ist für Weinrich keine bloße Applikation. Viele seiner Fragestellungen hat er an der schönen Literatur entwickelt, das Wort "Textgrammatik" deutet bereits darauf hin: Die Textlinguistik als Erweiterung der Linguistik kann den Satz als (lange Zeit gültige) 'oberste Bezugsgrenze' der Erforschung von Sprache nicht länger akzeptieren; sie muss auch Rhetorik und Stilistik sein. In seinem bahnbrechenden "Tempus"-Buch hat Weinrich gezeigt, wie lehrreich es sein kann, den Satz als pragmatische und grammatische Einheit hinter sich zu lassen und ihn im textuellen Gefüge zu sehen. Jeder, der bewusst mit Sprache umgeht, sollte dieses Buch lesen, zumal es eine intime Kenntnis der modernen Klassiker der europäischen Literatur bezeugt und zudem noch komparatistisch argumentiert, indem es die Unterschiede der Tempusgefüge der europäischen Sprachen am Beispiel ihrer großen Autoren herausarbeitet.

Weinrich ist ein Homme de lettres, und zu seinen Lieblingslektüren gehören nicht zufällig die "Essais" des Michel de Montaigne. Seine Aufsätze sind, mit Valéry gesagt, ein "Fest des Intellekts", sie erscheinen in Fachzeitschriften ebenso wie in Literaturzeitschriften. Der letzte größere Sammelband, "Sprache, das heißt Sprachen", markiert in sechs Kapiteln die wichtigsten Arbeitsschwerpunkte der letzten 20 Jahre: "Von der Leiblichkeit der Sprache", "Grammatik für Texte", "Sprache und Gedächtnis", "Sprache in Wörterbüchern", "Fach- und Wissenschaftssprachen" und "Gedanken zu einer europäischen Sprachenpolitik."

Der Sprachwissenschaftler geht hier davon aus, dass sich ein demokratisches Europa nur pragmatisch, das heißt durch Kommunikation bilden kann: "Demokratie ist diejenige Gesellschafts- und Staatsform, in der miteinander geredet werden muss, bevor man im Konsens oder Dissens handelt. Das setzt ein gewisses Sprachbewusstsein, eine gewisse Sprachkultur und sogar eine gewisse Sprachkunst voraus." (Im Gespräch mit Gerhard von der Handt) Unsere führenden Politiker geben da nicht immer ein gutes Bild ab, aber in den Gremien und Ausschüssen, in denen die Kompromisse ausgehandelt werden und die Vorentscheidungen fallen, muss Mehrsprachigkeit gewährleistet sein. Europas Mitglieder, davon ist Weinrich überzeugt, müssen darüber hinaus die individuelle Mehrsprachigkeit eines jeden Bürgers anstreben: "Mehrsprachigkeit ist in der Welt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die meisten Menschen dieser Welt, vor allen Dingen auch in den Entwicklungsländern, sind mehrsprachig und müssen es sein, um zu überleben. Einsprachigkeit, wie sie in bestimmten Weltgegenden besteht, ist eine Spätform der Sprachlichkeit, die entstanden ist durch die Bildung großer Flächenstaaten unter den Bedingungen der Kolonialisierung."

Was also bei tribalen Gemeinschaften selbstverständlich ist, müssen die Hochkulturen erst wieder lernen. Bewusst hat Weinrich deshalb den von Leibniz geprägten Begriff der "Sprachkultur" wieder in die Diskussion eingebracht. Der Begriff soll deutlich machen, dass es neben den pragmatischen Zwecken des Spracherwerbs auch kulturelle gibt, ohne die jede Sprache eine Behelfssprache bleiben würde und jeder Sprachunterricht "etwas Monströses" hätte. Die besten und bekanntesten Botschafter solcher Sprachkultur - Autoren wie Alfred Grosser, Jorge Semprun oder Andrzej Szczypiorski - machen zugleich deutlich, dass es notwendig ist, den Lernprozess in ganz umfassendem Sinn zu gestalten und anzubieten, damit der Spracherwerb "tief in den Lebensbedingungen verankert" wird. Für Autoren, die zwar deutsch schreiben, aber Deutsch nicht als Muttersprache gelernt haben, hat Harald Weinrich den Adelbert-von-Chamisso-Preis ins Leben gerufen, der vom Münchener Institut Deutsch als Fremdsprache und der Bosch-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste verliehen wird und der bereits auf eine eindrucksvolle Preisgeschichte zurückblicken kann. Die Preisträger des Chamisso-Preises danken es ihm auf ihre Weise: Die mittlerweile 26 Autoren und Autorinnen haben poetische Texte zu einer Festschrift beigetragen. Gedichte und Erzählungen sind Weinrich gewidmet, Essays würdigen seine Verdienste. Elazar Benyoëtz, Preisträger des Jahres 1988, schreibt beipielsweise: "Meine Freundschaft zu Harald Weinrich bewährte sich in der Zeit; die Zeit verhärtete sich zum Zeitproblem: nicht leicht zu lösen, aber aufzulösen: zuweilen erzählerisch, bisweilen aphoristisch."

Irmgard Ackermann und Heinz Friedrich würdigen die Verdienste des Sprach-und Literaturwissenschaftlers, der mit literarischen Preisfragen gezielt auf deutsch schreibende Autoren anderer Muttersprachen zuging. Die Themenstellungen, die er für sie entwickelte, hießen beispielsweise "Deutschland, fremdes Land" (1979), "Als Fremder in Deutschland" (1981), "In zwei Sprachen leben" (1983) oder "Über Grenzen" (1985). Sie eröffneten neue Formen des Dialogs mit einer deutschen Literatur, die nicht von Deutschen stammt. "Gutes Deutsch", davon ist der polyglotte Sprachforscher überzeugt, "ist mehr als richtiges Deutsch, und wer ein gutes Deutsch lernen, pflegen oder vermitteln will, muss sein Sprachbewusstsein auch an Sprachformen der Vergangenheit und an fremden Sprachen "verfeinert" haben ("Wege der Sprachkultur"). Als auf der Basis der deutschen Gegenwartssprache der sechsbändige Duden erarbeitet wurde, plädierte Weinrich dafür, nicht nur solche Texte auszuwerten, die im 20. Jahrhundert entstanden sind, sondern auch 'klassische' Texte, weil sie ebenso zur Gegenwartssprache gehörten: Schließlich werden Goethe und Schiller, Lessing und Kleist noch immer gespielt, werden Hegel, Kant und Nietzsche noch immer diskutiert. Es entstand das erweiterte achtbändige "Große Wörterbuch der deutschen Sprache" (1993-1995), das den Bedürfnissen eines höher entwickelten Sprachbewusstseins eher entsprach.

Weinrich ist ein Wörterbuchfex, und in einem Essay vergleicht er das "Deutsche Wörterbuch" von Jacob und Wilhelm Grimm mit jenem Wal, der einst den Propheten Jonas verschluckte. Einer jüdischen Legende zufolge bot der gewaltige Bauch des Wals genug Raum für gemütliche Häuser und sogar eine Synagoge, so dass Jonas gar nicht mehr in die Wirklichkeit zurückkehren wollte. Das "Deutsche Wörterbuch", bei dtv erschwinglich, sei ein "grünes Monstrum", das zum "Verweilen im Innern" geradezu einlade. In seinem Aufsatz "Sprache in Wörterbüchern" plädiert Weinrich dafür, neben den zugrunde gelegten schriftlichen Quellen literarischer und nichtliterarischer Provenienz jetzt auch die mündliche Rede zu berücksichtigen. Denn im Zeitalter der Informationstechnologie sei es kein Problem mehr, gesprochene Sprache zu dokumentieren und auszuwerten. Und "solange ein Wörterbuch diese Dokumentation nicht systematisch vorgenommen" habe, wüssten wir nicht genau genug, "in welchem Ausmaß die gesprochene und die geschriebene Sprache tatsächlich auseinanderstreben."

Wer etwas über einen Autor erfahren möchte, schaue in seinen Büchern nach. Aus Anlass eines 75. Geburtstages bietet es sich an, jeweils die Seite 75 zu konsultieren. In Weinrichs Buch "Sprache, das heißt Sprachen" beispielsweise, dem auch das vorzügliche, 50 Seiten umfassende Schriftenverzeichnis entnommen ist, findet sich der Satz: "Es muss sich um ein richtiges Subjekt handeln". Und in der "Hommage an Harald Weinrich", herausgegeben von der Robert-Bosch-Stiftung, heißt es "Einer Goldwaage glich sein Rechtsgefühl". Zwar geht es hier, in dem Gedicht von Adel Karasholi, um Michael Kohlhaas, und dort, in dem Aufsatz von Harald Weinrich, um den Einfluss der aristotelischen Kategorienlehre auf unsere Grammatik, dennoch aber passen solche Fundstücke sehr schön auf eine Persönlichkeit 'mit Prädikat', deren Überzeugungen und Taten im Einklang stehen mit ihren pädagogischen Qualitäten und ihren sprachlichen Handlungen. Sicher hat dies auch mit Weinrichs Biographie zu tun: Der Romanist hat Französisch nicht auf der Schule, sondern in der Kriegsgefangenschaft gelernt. Eine seiner ersten Lektüren galt nach seiner Heimkehr der "Odyssee" als einer 'Heimkehrergeschichte'. Später hat er die Migration, das Wandern der Menschen und Völker, als das zentrale Thema der Epik bezeichnet: "Sollen wir schon die 'Ilias' ein Buch der Wanderungen nennen?", fragte er. Gewiss: "Denn wenn wir Krieg und Not aus unseren Überlegungen herauslassen, verstehen wir wenig, fast nichts von Wanderungen."

Als der "sprachenpolitische Denker" (Helmut Glück) einen Vortrag über Migration in der deutschen und in der Weltliteratur halten wollte, suchte er sich den Bayerischen Landtag dafür aus, erzählte den Abgeordneten von Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" und interpretierte die "Iphigenie" als Xenologie, als eine Lehre über das Fremde. Seiner "integrativen Programmatik" (Thomas Gloning) kam die Fremdsprachenpolitik in Europa ebenso in den Blick wie die "Sprache des mündigen Bügers". Mit seinem Essay "Linguistik der Lüge" antwortete er 1964 auf eine Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt: "Kann Sprache die Gedanken verbergen?". Seither wurde der "Architekt der Textlinguistik" (Peter Koch) mit zahlreichen Auszeichnungen, Preisen und Würdigungen bedacht. Es muss sich also um ein richtiges und wichtiges Subjekt handeln, wenn ihm alle Foren offenstehen, wenn seine Schriften in alle Weltsprachen übersetzt werden und wenn ihm sogar seine Fachkollegen verzeihen, dass er der Romanistik "untreu" wurde, weil sein "unbändiges Interesse an neuen wichtigen Fragestellungen" (Wulf Oesterreicher) ihn immer wieder zu neuen überraschenden Einsichten führten und führen. Für Franz Lebsanft ist Weinrich nach dem Tod Eugenio Coserius "der Doyen der deutschen romanischen Sprachwissenschaft": "Er gehört zu den wenigen Gelehrten, die Sprach- und Literaturwissenschaft in originellester Weise verbinden, die über die Einzelphilologien hinaus in mehreren Sprachen und Literaturen zuhause sind."

Als Autor hat Weinrich auch ein "orientalisches Märchenspiel" ("Die sechs Sklavinnen", 1978) geschrieben und Gedichte verfasst. Ein Gedichtzyklus beschäftigt sich mit den heroischen Taten des Herkules und formuliert am Ende auch eine politische Forderung. Der Mythos möge dereinst von einer 13. Tat künden: "am Genfer See Frieden gestiftet".

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Harald Weinrich: Sprache, das heißt Sprachen.
Gunter Narr Verlag, Tübingen 2002.
411 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-10: 382335339X

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Titelbild

Viele Kulturen. Eine Sprache. Hommage an Harald Weinrich. Zu seinem 75. Geburtstag von den Preisträgern und Preisträgerinnen des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert-Bosch-Stiftung.
Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2002.
167 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3922934676

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