Von Monstern und vom Gefressenwerden

Ein Sammelband zum Märchen wirft Fragen auf

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit den im Titel genannten "Märchentexten", das muss vorausgeschickt werden, sind von Kindern oder Jugendlichen geschriebene Märchen und die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm gemeint. Die Psychoanalyse hat zu den Grimm'schen Märchen ja immer ein besonderes Verhältnis gepflegt. So wurden archaische Muster entdeckt und die existenzielle Symbolik entschlüsselt, mit einer Freude am Deuten, die den Text wohl manches Mal hinter sich ließ. Die Stärken und Schwächen einer vor allem durch Freud geprägten Märchendeutung werden auch in diesem Band sichtbar, der sich insofern als Bestandsaufnahme des aktuellen Psycho-Märchen-Diskurses empfiehlt.

In ihrem ersten Beitrag nimmt Brigitte Boothe das spezielle Erkenntnisinteresse des Bandes in den Blick: Märchen der 'Gattung Grimm' zeichnen sich aus durch die Gestaltung des Wunderbaren. 'Wunderbar' als terminologische Kennzeichnung meint die sprachliche Gestaltung von Lebensschicksalen, die der Bedrängnis entkommen und in der Fülle des Diesseitigen ganz und gar glückliche Vollendung finden." In den Schlussbeiträgen bezeichnet Boothe das Grimm'sche Märchen unter anderem "als Bauform der Empathie". Somit wäre das Märchen nicht nur - nach Freud - eine Wunscherfüllung, sondern es erfüllt auch einen sozialen Zweck, zumindest auf der Seite der Rezipienten.

Die empirische Arbeit mit Märchen auf der Seite von - jüngeren, heutigen - Produzenten zeigt ein etwas anderes Bild. Kinder und Jugendliche schreiben nicht nur Märchen mit gutem Ausgang. Oft sterben die Protagonisten, manchmal sogar eines erschreckend grausamen Todes. Das ist eine wichtige Erkenntnis, eine andere lautet: Märchengestaltung und -verlauf sind geschlechtsabhängig. Kristin Wardetzky ist dem nachgegangen und hat herausgefunden, dass Märchen von Jungen folgende Merkmale haben: "Auseinandersetzung mit dem Monster, Fehlen der sexuellen und sozialen Dimension, Nähe zum Heroenmythos." Dagegen die Mädchen: "Der soziale Aufstieg ihrer Heldinnen und Helden ist ihnen besonders wichtig; Thema Nr. 1 ist bei ihnen die Liebe."

Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit betrifft das Alter. Lorenz Lunin hat seinen Probanden vier Märchenanfänge vorgegeben und herausgefunden, dass bei den Jüngeren die Abhängigkeit von den Eltern durchscheint, während die Märchen der Pubertierenden eine "wachsende Unternehmungslust" spiegeln. Wirklich beunruhigend sind die Befunde von Claudia Galli und Catherine Paterson. Sie haben bei ihrer empirischen Untersuchung 37 Prozent sogenannter "Antimärchen" gefunden, in denen "die Hauptfigur zum Untergang verurteilt ist".

Was manche Jugendliche sich ausgedacht haben, wirkt wie Drehbuchideen für neue Hollywood-Horrorfilme, die dann aber keinesfalls jugendfrei wären. Auf die Diskussion, ob es vielleicht eine umgekehrte kausale Beziehung gibt, ob also Filme solche Grausamkeits-Phantasien auslösen können, darauf wollen sich Galli und Paterson ebensowenig einlassen wie auf andere Motivforschung. Schade, denn das dürfte eine der zentralen Fragen unserer heutigen Mediengesellschaft sein. Vielleicht hätte man durch Nachfragen oder eine zweite Stichprobe darüber wenigstens einige Auskünfte bekommen.

Dass es offenbar auch genetische Dispositionen gibt, die solche Filme dann vielleicht stimulieren oder auch nur mit Vorstellungsmaterial füllen, darauf verweist ein Vergleich des Handlungsverlaufs der hier vorgestellen Antimärchen mit Kunstmärchen der Romantik, insbesondere denen Ludwig Tiecks. Die identifizierten Kernmerkmale passen genauso gut auf seinen "Blonden Eckbert" oder den "Runenberg": spannungsvoller Aufbau, bedrohliche Atmosphäre, tödlicher (oder zumindest auswegloser) Schluss.

Interessant ist wieder, dass die Märchen-Brutalos fast immer männlichen Geschlechts sind. Einem Märchen einer weiblichen Autoren stehen zehn Märchen männlicher Autoren gegenüber, in denen der Protagonist aufgefressen, mit einer Axt hingerichtet, zu Tode gefoltert oder sonstwie ermordet wird. Der postmoderne, durchtechnologisierte Mensch hat die Steinzeit noch lange nicht hinter sich gelassen.

Titelbild

Brigitte Boothe (Hg.): Wie kommt man ans Ziel seiner Wünsche? Modelle des Glücks in Märchentexten.
Psychosozial-Verlag, Giessen 2002.
168 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3898061361

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch