Ich befand mich einfach in einer anderen Dimension

Ernst Jünger im Gespräch mit Antonio Gnoli und Franco Volpi

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Jünger hat selten Interviews gegeben, doch sind – aufs ganze lange Leben gesehen – doch einige wichtige Gespräche zustande gekommen und auch publiziert worden. Zu seinen Übersetzern pflegte der Autor eine intensive, ja innige Beziehung, und so überrascht es nicht, dass Jünger, als sein 100. Geburtstag bevorstand, dem Wunsche seiner beiden italienischen Übersetzer Antonio Gnoli und Franco Volpi nach einem Termin entsprach.

Aus dem einen Termin wurde drei, geführt am 9. März und am 13. und 14. Oktober 1995. Jedem Gespräch ist ein Kommentar der beiden Übersetzer vorangestellt, ein Einstimmung auf Person, Leben und Werk: „Er ist klein, hager, ausgeglichen. Seine Hand zeigt, wohin wir uns setzen sollen, dann streicht sie durch die weißen Haare, bevor er sie mit einer ruckartigen Bewegung des Armes fallen lässt, was vielleicht an seine militärische Vergangenheit erinnert.“

Gnoli und Volpi lassen Jünger erzählen. Vor ihren (und unseren) Augen entfaltet sich ein Jahrhundert. Am Anfang herrscht Aufbruchsstimmung vor: Mit Röntgens Erfindung kann man zum ersten mal „in das Innere der Materie“ blicken, mit der Dreyfus-Affaire siegt die demokratische Öffentlichkeit über die konservativen Kräfte. Die „Luft selbst“, so Jünger, fesselte. Zu Beginn der zwanziger Jahre dann manifestiert sich erste Fortschrittsskepsis, eine sehr pessimistische Kulturkritik wird laut. Der Untergang der Titanic war ein Fanal, Autoren wie Oswald Spengler finden Jüngers Interesse: „In der von Spengler angekündigten Glut der Abenddämmerung sah ich die Gestalt des Arbeiters in ihrer ganzen Macht.“

Noch immer interpretiert Jünger den Ersten Weltkrieg als „Form eines heroischen Aktivismus“, während er den Zweiten als „Strudel des Nihilismus“ wertet. Er selber bezeichnet die Welt der Bücher als seine wichtigste Erfahrungsquelle: „Wenn ich dagegen glaubte, die Motive aus der Realität zu ziehen, wurde ich bitter enttäuscht. Ich will damit sagen, dass für mich der Heroismus eher aus der literarischen Erfahrung als aus einer effektiven und konkreten Möglichkeit des Lebens entstand.“

Seinen Heroismus führt Jünger im konkreten Fall auf Ariost zurück, dessen „Rasender Roland“ zu den wichtigsten Lektüren seiner Leserbiographie zählt, schon im großen Krieg: „Es waren seine Worte, seine Reime, die ich in den Kampfpausen las und die mich motivierten.“ Große Ereignisse, so Jünger, seien immer literarisch und böten jedem, der sich bedienen wolle, Stoff.

Überraschungen bietet das Gesprächsbuch nicht, intrikate Frage werden nicht gestellt. Erstaunlich sind die geistige Präsenz und das gute Erinnerungsvermögen des Hundertjährigen, wobei nicht klar wird, ob Jünger aus dem Gedächtnis so präzise zitiert oder ob die zahlreichen wörtlichen Übernahmen (von Nietzsche-, Kubin-, Schmitt-Zitaten) etwa nachträglich in irgendeiner Weise rektifiziert worden sind. Staunen macht die Intensität, mit der Jünger die Welt wahrnimmt, beiespielsweise wenn er von neueren Medien spricht: „Eine Filmaufnahme gibt die Möglichkeit, die physische Präsenz, die Stimme, die Geste von verstorbenen Personen, die man aus dem Gedächtnis verloren hat, wieder auferstehen zu lassen. Diese Wirkung, die ich magisch nenne, ist berufen, in immer eindrucksvollerer Weise in Erscheinung zu treten. Man spricht schon von virtueller Realität, der vierten Dimension. Selbst das Denken digitalisisert sich.“ Er spricht sogar von der Möglichkeit, „Hypertexte“ zu schaffen

Dimension ist auch das Schlüsselwort, um vom Selbstbewusstsein des Autors zu künden, etwa wenn er sagt, er habe mit seinem Roman „Auf den Marmorklippen“ die politische Bühne verlassen und sich ganz „auf eine andere Ebene gestellt“. Dem politischen Effekt seines Buches sei er damit ausgewichen: „Im Grunde ist es klar, dass ich gewiss Gefährten und Schüler gefunden hätte, wenn ich politisch Stellung bezogen hätte; aber ich wäre auf das gleiche Niveau wie Hitler erniedrigt worden. Ich war einer seiner Gegner, aber kein politischer Gegner. Ich befand mich einfach in einer anderen Dimension.“

Volpi und Gnoli fragen Jünger gezielt nach Personen der Zeitgeschichte: Hitler und Goebbels natürlich, Manfred Rommel und Hans Speidel, Max Weber, Karl Kraus, Hermann Hesse, Alfred Kubin und Pablo Picasso, Martin Heidegger, Hannah Arendt, Ernst Niekisch und Hugo Fischer, Ernst von Salomon, Alexander Mitscherlich, Gerhard Nebel und Walter Benjamin, Valeriu Marcu, André Gide, Bruce Chatwin und viele andere. Am besten habe er sich mit Carl Schmitt verstanden – dies sagt er trotz gewisser Ressentiments, die in Schmitts Tagebuch gegenüber Jünger deutlich werden.

Generelle Themen und Fragen werden angeschnitten: Jüngers Autorschaft, sein Verhältnis zu Amerika und Frankreich, seine Studienzeit in Neapel, die Käferleidenschaft und die Drogen- und Rausch-Erfahrungen, seine Bibel-Lektüren, seine Reisen und Pläne.

Aus dem editorischen Bericht geht nicht hervor, in welcher Sprache die Interviews geführt worden sind. Mitgeteilt wird, dass Jünger die italienische Fassung „gesehen und gebilligt“ habe, die „deutsche Übertragung der Niederschrift“ aber nicht mehr abgesegnet habe. Wahrscheinlich war es so, dass die Gespräche auf Deutsche geführt, ins Italienische übersetzt und dann ins Deutsche rückübersetzt worden sind. Denn anders lassen sich die manche Eigentümlichkeiten in Jüngers Rede oder offenkundige Fehler („Über die Zeitmauer“ statt „An der Zeitmauer“ usw.) kaum erklären. Ein Beispiel für viele: „Obwohl ich glaube, dass ein Autor die Regel respektieren sollte, niemals über seine eigenen Bücher zu sprechen, möchte ich hinzusetzen, dass im Fall von ‚Auf den Marmorklippen‘ der politische Effekt für mich sekundär war.“ Die legitime Lesart ist hier: Der Autor sollte nie über Bücher sprechen, es sei denn über die eigenen. Jüngers bekannte Haltung ist jedoch die genau gegenteilige: Getreu der Devise, dass derjenige, der sich selbst kommentiere, unter sein Niveau gehe, vermeidet er das Gespräch über die eigenen Bücher, spricht aber gern über Bücher fremder Provenienz. Hat sich Jünger hier missverständlich ausgedrückt oder ist die (Rück-)Übersetzung ungenau?

Zu dem Mängeln kommt hinzu, dass bisweilen weder das Originalzitat noch der Quellennachweis stimmen. Irreführend ist auch die Zeittafel am Ende des Bandes, deren Zwischenüberschriften andere Zeiträume benennt als dargestellt.

Mit dem 21. Jahrhundert, so Jünger gegen Ende, werde die Menschheit ins Zeitalter der Titanen eintreten: „Vielleicht werden neue Götter am Horizont des Menschen erscheinen.“ Ihm selber war es nicht vergönnen, das noch zu erleben, sein Ziel, in drei Jahrhunderten und zwei Jahrtausenden gelebt zu haben. erreichte er nicht.

Titelbild

Ernst Jünger / Antonio Gnoli / Franco Volpi: Die kommenden Titanen. Gespräche.
Karolinger Verlag, Wien 2002.
154 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3854181000

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