Und doch singen die Trümmer noch

Einige Feuilletons über Dichtung: "Der zertrümmerte Orpheus” von Michael Braun

Von Ron WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ron Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Urteil liest sich als ein harsches: Orpheus sei zertrümmert, die Gesänge abhanden gekommen, magische Sprache ergo nur noch bedingt möglich. Der Dichterkönig unserer Zeit, schreibt Michael Braun, sei zur trostlosen Gestalt geworden, "eine Figur am Ende einer Verfallsgeschichte." Er wandle nicht mehr als "Lichtgestalt und charismatisches Genie", sondern treibe in die "rätselhafte Schattenwelt."

Michael Braun, unermüdlich an den Stellungsgräben zeitgenössischer Lyrik als deren Lektor tätig, paraphrasiert im zentralen Essay einer Sammlung von Feuilletons zunächst einen Orpheus-Rekurs des Lyrikers Albert Ostermaier, der den poetischen Ahnen statt mit der Kithara handelnd, "mit kettensägen" bearbeitet sieht. Olymp und Produktionsstätte des modernen Dichters, so Braun in seiner These, die Poeten wie etwa Oswald Egger vernachlässigt, seien abgesenkt in die peripheren Dunkelzonen der Städte. Unwiederbringlich, "so scheint es". Die Jetztmoderne gründe eben andere Dynastien als die der Poesie.

Der Gegenwartslyrik drohe - auch diese Klage ist zu absolvieren - Marginalisierung, die ihrer Form genau wie die ihrer Protagonisten. Die hellsichtigen Dichter brechen die Begabungen ihres Ur- und Abbilds Orpheus - Sujet ist immer auch Selbstkennzeichnung - brechen: zertrümmernd wie Ostermaier oder ihn mit Updates versehend wie Dieter M. Gräf (er gibt Orpheus in "Treibender Kopf" ein drittes Auge).

Omnipotenz aber ist kein Thema mehr; die letzten reinen "orpheischen Helden" seien (für den deutschsprachigen Raum) bei Benn und Rilke zu finden.

Michael Braun sieht sich veranlasst, von diesem gezeichneten Ort aus die Dichterkönige unserer Tage ausfindig zu machen und kommt dabei schließlich auf ein Gestirn aus drei recht separaten Lyrikern, welche Anrecht auf post-orpheischen Status haben könnten. Dabei gelingen Braun konzise Porträts - vom mittlerweile mit der "Melancholie eines Abgeklärten" agierenden "Bildungs-Flaneur" Durs Grünbein über den sinnlichen "Universalpoeten" Raoul Schrott bis zum ,Renitentesten' der Trias, Thomas Kling, dessen Texte als "Berserkereien eines wilden Sprachzertrümmerers" verkannt, eher "obsessive Sprachfeld-Forschungen und Entzifferungen eines Historikers" zu nennen seien.

Als Gemeinsamkeit darf ihnen - was tatsächlich auch bei anderen, wenn nicht sogar vielen zeitgenössischen Dichtern zu erkennen ist - "eine Synchronisierung von Antike und Gegenwart" zugesprochen werden. Vorerst noch nicht umfassend analysiert, lässt sich sagen, dass Historien und Mythen als lange Hebel in die Gegenwart dienen, als weitere Beschreibungsräume öffnende Zweitschlüssel.

Was, wenn man einen anderen Aufsatz von Braun ("Im Genesis-Gelände") heranzieht, auch für religöse Motive und Themen und für quasi-religiöse Ansätze des lyrischen Schreibens gilt. Der junge Lyriker Christian Lehnert beispielsweise habe sich von "allen intellektuellen Konditionierungen der metaphysisch rigoros ausgenüchterten Vorväter freigeschrieben" und greife "in emphatischer Weise auf religiöse und mystische Stoffe" zurück. Generell jedoch überwiege der Antrieb, die leer gewordene Kirche noch einmal aufzusuchen, "um die Trümmer der Heilsversprechen zu besichtigen."

Auch wenn der Untertitel der Textsammlung "Über Dichtung" suggeriert, hier würde eine Poetologie angestrengt, kann man nach der Lektüre der teils knappen, untereinander nicht verbundenen Essays nicht enttäuscht sein. Auch Details nähren einen Eindruck. Ausführlich widmet sich Braun Dieter Wellershoff, W. G. Sebald und dem Briefwechsel zwischen Gunnar Ekelöf und Nelly Sachs. Besonders wertvoll ist der Versuch, den Schriftsteller Günter Steffens aus der Versenkung zu holen.

Der Band schließt mit einem bissigen Artikel über ,konturlose', aber "stolze Ich-Sager" und "Gegenwartsnarren". Sarkasmus, sieht man hier deutlich, ist Michael Braun so wenig fremd, wie er gelegentlich vor der Atmosphärisierung seiner Texte nicht gefeit ist. Aber es kann nur erfrischend sein, wenn der Autor schreibt, er sei "mitunter geneigt, sich von seinen hermeneutischen Pflichten zu entlasten".

Titelbild

Michael Braun: Der zertrümmerte Orpheus. Über Dichtung.
Herausgegeben von Michael Buselmeier.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002.
64 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 3884231979

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