Alles ist eine Frage der Linie

Ann-Kathrin Reulecke untersucht den Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Analog zur Intertextualität, die eine in einem Text nachweisliche Einbeziehung mindestens eines weiteren Textes bezeichnet, ist in den letzten Jahren der Begriff 'Intermedialität' zu einem populären Forschungsfeld geworden. 'Intermedialität' lässt sich als eine intendierte, in einem Artefakt nachweisliche Verwendung mindestens zweier als distinkt angesehener Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien definieren. Für die Literatur ist in diesem Zusammenhang vor allem die Frage nach der Einbeziehung von bildender Kunst und Literatur bedeutsam. In diachroner Abfolge können Texte einzelne, gelegentlich auch fiktive, Bilder beschreiben, interpretieren oder alludieren sowie Künstlerfiguren, kunstgeschichtliche und -theoretische Probleme thematisieren. Umgekehrt können auch Bilder inhaltlich auf Texten basieren. Daneben existieren ohne nachweisbare Einflüsse stoffliche oder motivliche Koinzidenzen zwischen Bildern und Texten, innerhalb gemeinsamer kulturhistorischer Kontexte oder auch über diese hinausgehend. Die Geschichte der Interdependenz von Literatur und bildender Kunst ist seit der Antike immer wieder geprägt von Diskussionen um die Vormachtstellung unter den Künsten. Sie nimmt ihren Ausgang in der Ästhetik des Hellenismus, die nicht nur den Kunstcharakter von Malerei und Skulptur neu definierte, sondern auch Gemeinsamkeiten mit der Literatur in der Mimesis erkannte. Auf eine deutliche Trennung der Künste zielt bekanntlich Lessings Streitschrift "Laokoon", indem er die Darstellungsformen der Literatur als primär zeitgebunden und die der bildenden Kunst als raumgebunden charakterisiert. Mit der Romantik beginnt eine teilweise emphatisch irrationale Idealisierung von Symbiose und Synästhesie, die sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts wiederholt. Schließlich werden um 1900 mit dem Aufkommen von Film und Photographie die visuellen Medien innerhalb der Avantgarden immer dominanter und fungieren bis heute zunehmend als Folie der Literatur.

Die wissenschaftliche Erforschung des Verhältnisses von Kunst und Literatur, Text und Bild, ist seit einigen Jahren eine interdisziplinäre Angelegenheit: Sie findet durch komparatistische Untersuchungen einzelner Werke und Aspekte sowohl im Grenzbereich von Philologie und Kunstgeschichte, aber auch mit übergreifenden Ansätzen wie zum Beispiel der Semiotik, der Systemtheorie oder der bislang noch mit ihrer Selbstdefinition befassten Kulturwissenschaft statt. Eine umfassende theoretische Systematisierung intermedialer Beziehungen leisten auch diese Disziplinen nur ansatzweise, indem sie sie als Teilbereiche kulturellen Handelns oder eines übergeordneten Symbolsystems "Kultur" beschreiben. Dieses Problem, so viel sei vorweggenommen, löst auch Anne-Kathrin Reuleckes ebenso material- wie kenntnisreiche Untersuchung "Geschriebene Bilder" nicht; dennoch betritt sie bislang unerforschtes Neuland. Der Ausgangspunkt ihrer Arbeit liegt darin begründet, dass in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl deutschsprachiger Prosatexte entstanden sind, die von Bildern erzählen, von ihrer Entstehung und Rezeption berichten, Texte, die über Bilder urteilen und interpretieren, Texte, deren unmittelbarer Schreibanlass von Bildern stimuliert wurde und Texte, die sich in ihrer Schreibweise an der Struktur von Bildern orientieren. Konkret hat die Verfasserin fünf paradigmatische Prosatexte ausgewählt: Peter Weiss' "Die Ästhetik des Widerstands" (1975-1981), Gert Hofmanns "Der Blindensturz" (1985), Anne Dudens "Das Judasschaf" (1985), Erika Pedrettis "Valerie oder Das unerzogene Auge" (1986) und Peter Handkes "Die Lehre der Sainte-Victoire" (1980). Den ihnen eigentümlichen Wert sieht Reulecke in dem Umstand begründet, dass die Kunstwerke in diesen Texten nicht beschrieben werden, "da dieser Begriff von einer gesicherten Präsenz des Kunstwerks vor der Schrift ausginge, die nur zu restituieren wäre". Vielmehr handele es sich um einen Prozess der Annäherung an die Kunstwerke, deren Bedeutung für die Schreibgegenwart erst im Text entsteht und geschrieben wird. Die in den literarischen Texten auf recht unterschiedliche Weise thematisierten Gemälde und Skulpturen stellen "mit ihrer 'anderen' Materialität und ihrer 'anderen' Symbolisierungsweise ein Gegenüber zur Literatur dar, vor dem die Literatur die Grenzen ihrer Darstellbarkeit überprüft und zu erweitern sucht". Der etwas skurril anmutende Titel der Arbeit will zum einen daran erinnern, dass die Bilder im literarischen Text geschrieben werden und so ein enges Verhältnis zwischen Bild und Schrift besteht, zum anderen soll der Akzent auf den Texten liegen, die aus den Bildern zwar ihre spezifische Qualität beziehen, diese aber in literarischen Schreibweisen realisieren. Das bedeutet nun, dass in den ausgewählten Texten neben der Auseinandersetzung mit den Motiven und Inhalten der Bilder stets auch eine Reflexion über die Darstellungsbedingungen von bildender Kunst, über die unterschiedliche Materialität der Medien und über das Verhältnis von Bild und Schrift stattfindet. Desgleichen werden die Bilder immer auch in ihrer Funktion als "Bilder des kulturellen Gedächtnisses" (Sigrid Weigel) befragt, wobei sich die 'Texte geschriebener Bilder' immer auch mit der in unserer Kultur vorherrschenden Symbolisierungsform, der Repräsentation, auseinandersetzen. Sie artikulieren - im Unterschied zu rein begrifflich arbeitenden poststrukturalistischen Texten etwa - eine Trauer um die Unzugänglichkeit des Realen oder um die radikale Heterogenität von Signifikat und Signifikant. Zugleich formulieren sie - wie Reulecke zu Recht unterstreicht - "alte und neue Sehnsüchte nach 'natürlichen Zeichen' sowie das Begehren nach dem Realen, nach 'auratischen' oder magischen Kunstwerken". Die Bildbeschreibung ruft daher in Erinnerung, dass die Schrift niemals identisch mit ihrem Referenten werden kann. Die grundsätzlich inadäquate Sprache und die Grenze der Sichtbarkeit werden diskutiert, wenn an Bildern etwas abgelesen wird, was diese nicht darstellen (können). So erörtert die Verfasserin etwa die Reflexion über die Shoah und die mit ihr verbundene Abwesenheit und Unmöglichkeit von Bildern an den Texten von Weiss und Duden.

Eine weitere interessante Beobachtung Reuleckes ist, dass die 'Texte geschriebener Bilder' in einer Situation entstehen, in der sich "durch neue elektronische Medien wie Computer, Video und Internet die Wahrnehmungsformen und Schreibbedingungen gravierend zu verändern beginnen und insofern für viele Gegenwartsautoren die poetologische Frage nach der Funktion des Schreibens erneut virulent geworden ist." Die von ihr ausgewählten Texte stellen "Bewältigungsversuche in einer postmodernen Gesellschaft" dar, deren Zustand unter dem Kürzel 'Krise der Repräsentation' gefasst wird. Gewissermaßen avant la lettre thematisieren die vorliegenden Texte die Radikalität der medialen Revolution, die erst gegenwärtig in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar wird. Die als radikal empfundene Veränderung des Status der piktoralen und schriftlichen Zeichen sowie der Wechsel des kulturellen Leitmediums vom Buch zum Bild haben etwa Gottfried Boehm dazu veranlasst, in Anlehnung an den von Richard Rorty geprägten Begriff des 'linguistic turn' von der so genannten "ikonischen Wendung" zu sprechen, um das in den achtziger und neunziger Jahren geweckte wissenschaftliche Interesse an den Grundbedingungen des Bildes zu pointieren. In der letzten Zeit wird jedoch auch deutlich, dass Bilderflut und Bilderleere in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Norbert Bolz spricht etwa davon, dass die technische Bilderflut eine Kompensation der "großen Bilderlosigkeit der Neuzeit" darstelle, die primär als Effekt des monotheistischen Bilder-Verbotes verstanden werden muss. Anne-Kathrin Reulecke versteht es in ihren Einzelanalysen ausgezeichnet, gerade den hybriden Charakter der Bilder - ihren Status zwischen Zeichenhaftigkeit und Materialität zu zeigen und damit den reibungslosen Transfer zwischen geschriebener oder gesprochener Sprache und den jeweiligen Bildern zu problematisieren. Damit steht die Arbeit in enger Verbindung mit der medienhistorischen Reformulierung der Germanistik, die die "Materialität der Kommunikation" (Hans-Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer) zu ihrem Thema gemacht hat. Es handelt sich dabei um den Versuch, die materiellen Produktionsbedingungen von literarischen Texten wie Schreibwerkzeuge, Speicher-Technologien etc. als konstitutive Bedingungen der literarischen 'Bedeutung' zu restituieren. Der von Friedrich A. Kittler gebrauchte Begriff der "Aufschreibesysteme" wird von Reulecke insofern erweitert, als sie neben dessen rein technologischer Grundlage auch das Dispositiv der ästhetischen Produktion einbezieht (zum Beispiel die spezifische Geschlechterdramaturgie im künstlerischen Prozess).

Von besonderem Interesse sind neben den Einzelanalysen der genannten Texte vor allem die Kapitel 3, 4 und 5 der Untersuchung. Im dritten Kapitel wird der repräsentationslogische Zeichenbegriff auf seine historische Genese untersucht. Mit Hilfe der poetologischen Schriften Harsdoerffers, Bodmer/Breitingers und Lessings wird rekonstruiert, in welchem Verhältnis die innerhalb der Texte vollzogene Trennung von Kunst und Literatur zur Konstitution des von Foucault so genannten "Zeitalters der Repräsentation" steht. Kapitel 4 ist dessen Spielschrift. Hier werden nun moderne Bildtheorien herangezogen, die in einem komplementären Verhältnis zu den Poetologien des 18. Jahrhunderts stehen und sowohl die Materialität der Schrift als auch die Schriftlichkeit der Bilder rehabilitieren. Schließlich thematisiert Kapitel 5 das ebenso komplexe wie komplizierte Verhältnis von Körper, Bild und Repräsentation und stellt die Frage nach der Geschlechterdifferenz in der Repräsentation. Dabei gelingt es Reulecke anschaulich zu zeigen, dass die Literatur sui generis eine subtile Auseinandersetzung um die gegenwärtigen medialen Umbrüche führt und dass sich bereits um 1800 die heute viel beschworene Krise der Repräsentation abzeichnet.

In diesem Sinne löst sich der double-bind zwischen Kunst und Literatur auf in eine Wucherung der Doublierungen, aber auch der Differenzen. Was bleibt, ist die Bewegung des Aufschubs im Unterschied zwischen Bild und Text; die Verräumlichung der Trennungslinie zur Oberfläche unterschiedlichster Aufzeichnungen, die alle nur beliebige Visualisierungen ein und desselben unaufhaltsamen und unentscheidbaren Datenstromes sind - als Texte, Bilder, Plastiken, Töne, Photographien, Filme etc. Das, was man als Hypertext zu apostrophieren glaubt, kennt nur immanente Grenzen des Medienwechsels. Die Utopie wäre die Überwindung der "Linie" als Grenze, der vor allem von Derrida perfektionierte Randgang als Überschreitung der Trennungslinien zwischen den Künsten. Hierzu bemerkte bereits Deleuze: "Alles ist eine Frage der Linie. Zwischen Malerei, Musikmachen und Schreiben klafft kein unüberwindlicher Graben. Die Tätigkeiten unterscheiden sich nach ihren jeweiligen Materien, Codes und Territorialitäten, nicht jedoch im Hinblick auf die abstrakte Linie, die sie ziehen, die zwischen ihnen verläuft und sie einem gemeinsamen Schicksal entgegentreibt."

Titelbild

Anne-Kathrin Reulecke: Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur.
Wilhelm Fink Verlag, München 2002.
406 Seiten, 41,90 EUR.
ISBN-10: 3770536789

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