Der Einzelne nach der Kehre
Jörg Sader untersucht Ernst Jüngers "Strahlungen"
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der Jünger-Forschung wird gern das Bild der "Kehre" bemüht, um zu zeigen, dass sich der national-konservative Autor der Zwischenkriegszeit, der in seinem Buch "Der Arbeiter" 1932 eine faschistoide Marginalisierung des Individuums vollzog, von seiner ursprünglichen Haltung abgewandt habe und ein Widerstandsautor, ein Gegner Hitlers, geworden sei. Die Gründe dafür fand man, sofern man eine solche Kehre nicht überhaupt leugnete, in der "Humanität" des Autors auf der einen, in Jüngers "Abscheu" vor dem nationalsozialistischen Mob und seinen Verbrechen auf der anderen Seite.
Jörg Sader geht einen dritten, überzeugenderen Weg: Er konstatiert eine innerästhetische Kehre und schließt aus der Entwicklung des Œuvres auf Jüngers "Haltungswechsel" zurück, der sich in der "Renaissance des Einzelnen" manifestiere. Anzeichen dafür sieht er in der Parabel "Auf den Marmorklippen" (1939) und - vor allem - in den "Strahlungen" (1949), deren erster Teil - "Gärten und Straßen" - als letztes Buch Jüngers im nationalsozialistischen Deutschland 1942 noch erscheinen konnte.
"Wenn es Schnittstellen des Umbruchs [...] im Denken wie Schreiben Jüngers gibt, deren Summe rechtfertigte, von einer Kehre zu sprechen, dann liegt eine der folgenreichsten hier: mit der Konzeption des Einzelnen emanzipiert sich Jünger vom technomorphen, auf Befehl, Gehorsam und Opfer gegründeten Kollektiv."
Bei Jüngers neuer Haltung schon von "Subversion" zu sprechen, hält der Verfasser für überzogen, dennoch stelle sich der Einzelne - und zwar "jenseits des offiziellen nationalsozialistischen Staates". Die These wird vom Verfasser stark und virtuos und unter Diskussion der Forschungsliteratur eingeführt - der Einzelne sei Jüngers Antwort auf den "Monumentalismus des ästhetisierten Staates und seiner inszenierten Massen".
Diese 'Antwort' ist kein bloßer Reflex, wie Sader zu zeigen vermag, sondern wirkt sich genau so und nicht anders aus, weil der 'Einzelne' in Jüngers Typologie und auch in seiner Selbstbeschreibung zugleich aus einer Oppositionshaltung gegen Parlamentarismus und bürgerliche Saturiertheit heraus denkt und handelt. Das ist konsequent aus der Genese des Werkes heraus interpretiert und vermeidet allzu starke Ausschläge, wie sie in der Apologie Jüngers ebenso wie in seiner Verteufelung üblich sind. Es ergeben sich selbst für solche 'Stellen' in Jüngers Werk, die bisher immer als 'Reizstellen' bemüht worden sind, triftige und in ihrer Nuanciertheit neue Lesarten. Als Beispiel sei aus den "Strahlungen" der Eintrag vom 27. Mai 1944 zitiert, der einen Bombenangriff auf Paris festhält: "Vom hohen Dache des Raphaël sah ich zwei Mal in der Richtung von St. Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen. [...] Beim zweiten Male, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem gewaltigen Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird."
Später, in der ersten Gesamtausgabe, hat Jünger dem Zitat noch einen Satz hinzugefügt: "Alles war Schauspiel, war eine vom Schmerz bejahte und erhöhte Macht." Jünger, des Zynismus beschuldigt, fühlte sich missverstanden und wollte mit dieser späten Erweiterung seines Tagebuchs seine Distanz ausdrücken, "sowohl zu denen, welche die Stadt überflogen, wie zu jenen, die unten in den Straßen im Schrecken blieben. Ich war mit mir selbst allein und trank meinen Burgunder. Das war kein Zynismus, das war eine ästhetische Verteidigung angesichts der Todesangst. Die Kriegsszene hatte sich für mich in ein Schauspiel verwandelt."
Das Dach des Raphaël wird zur Theaterloge, und Sader kann zeigen, wie reich die Theatermetaphorik in Jüngers Tagebuch entfaltet ist. Die Früchte, die im Burgunder als dem "Wein der Weine" schwimmen, werden von Sader als Chiffre, als "privates", nicht aufklärbares Symbol gelesen.
Auf jeden Fall passt es sich ein in Jüngers Versuch, auch seine Bildersprache auf die organische Konstruktion der Wirklichkeit einzustellen: Die Erdbeere ist Frucht, der Wein gekelterte Frucht, der Schwarm der Flugzeuge bringt "tödliche Befruchtung", die neuen Fruchtstand verhindert. Historisch gesehen sind es alliierte Maschinen, die deutsche Stellungen bombardieren, und so sieht Jünger hier der Vernichtung der eigenen Vorposten zu, deren Teil er als deutscher Besatzungssoldat in Paris ist und die ihm gleichwohl widerlich sind, weil sie einem verbrecherischen Regime dienen. Der nationalsozialistische Staat hat das Schicksal herausgefordert, so will es diese Lesart, deshalb muss die Katastrophe kommen, deshalb ist sie ersehnt und schön, deshalb auch kann abgesehen werden von der eigenen Gefährdung.
Was Jüngers Tagebuch nun eigentlich sei, untersucht Sader im Hinblick auf die moderne Tagebuchliteratur und mit Rücksicht auf die deutsche und französische Tagebuchforschung; vor allem Béatrice Didier und Manfred Jurgensen sind ihm hier wertvolle Stichwortgeber. Aus dem befremdenden Pathos der "Strahlungen" und ihrem gleichsam "schöpferischen" Programm, das sich dieser Gattung gemeinhin gar nicht stellt, leitet Sager den "eigentümlich anachronistischen Kunstbegriff" Jüngers ab: Sein Tagebuch will seinen Lesern Offenbarung sein und tastet sich zu religiösen Wirkungen zurück, indem es eine Sprache sucht, in der "sowohl Gedanken als auch Bilder wirken sollen". Offenbar muss diese Sprache aber auch eine "Vernunftsprache" sein.
Sader konstatiert für Jüngers Tagebuch ein multiples Ich: Dandy und Flaneur, Chronist und Zeitzeuge, Militär und Metaphysiker, Sammler und Entomologe haben ihre je eigenen Ausdrucksformen, die in "situativer Teil-Autonomie" unangefochten nebeneinander agieren können, ohne sich einem "moralischen Gesichtpunkt" unterwerfen zu müssen. Nicht ganz deutlich wird in dieser Konzeption, wie sich die "vielen personae" des Tagebuchs, seien es Rollen, Figuren oder Funktionen, zu jener "stilistisch glättenden" und (Selbst-)Zensur ausübenden Instanz verhalten, die der Verfasser ebenfalls einführt und deren Aufgabe es ist, die Einheit des Tagebuchs zu stiften und es dadurch lesbar und konsumierbar zu machen. Denkt sich Sader diese Instanz als Funktion des Autors, oder ist sie eine eigenständige und textinterne Instanz 'oberhalb' des konkurrierenden Rollenensembles?
Akzeptiert man eine Ausgangsthese des Verfassers, der zufolge "Autoren-Ich und Tagebuch-Ich [...] immer ein und dasselbe" sind, dann kann diese Synthesefunktion nur vom Autor-Erzähler wahrgenommen werden, der als Darsteller direkt mit den verschiedenen 'Rollen' der dargestellten Welt konkurriert. In dieser Konstellation muss offen bleiben, was den Autor bewegen könnte, sich bestimmten Interessen seiner Figuren unterzuordnen.
Im dritten Kapitel ("Machtbeschreibungen") kann Sader zeigen, wie der Wertehaushalt des Dandys im Zweiten Weltkrieg tüchtig durcheinander gerät: Im Angesicht des NS-Terrors werden bürgerliche Werte einerseits, Werte archaischer Ritterlichkeit andererseits wiederentdeckt. Der Dandy reagiert mit Ekel und Abscheu auf die Verbrechen der Nazis und versucht zu helfen, wo er kann. Der Machtmissbrauch durch die Nazis aber ist nur ästhetisch zu denunzieren. Nach dem Scheitern des 'Arbeiters' als Modell kann sich Jünger keinen Übergang vom NS-Staat zu einem Nachfolgemodell vorstellen, das nicht entweder weiter von den niederen Instinkten des Plebs oder aber von aristokratisch-blasierter Menschenverachtung früherer Totalitarismen geprägt wäre. Der Autor spricht von Sulla und von sullanischen Maßnahmen, die notwendig wären, um einen Status quo ante nach dem Sündenfall herbeizuführen.
Sader arbeitet heraus, wie sich in den Tagebüchern die Figur des "Einzelnen" wieder durchsetzt, die in der Konzeption des 'Arbeiters' aus der Zwischenkriegszeit noch nicht einmal zu erahnen war. Dieser neue Einzelne ist der eigenen Person des Autors und ihren "Lebensregeln" nachgebildet; er wird das "vornehmste Thema" der Tagebücher und kann doch nur eine Pose beschreiben, "die die tatsächliche Ohnmacht in tragisch-leidende Verachtung ummünzt und noch die Gefahren realer Verweigerung dandystisch-stoisch herunterspielt". Ausdruck dieser Pose ist, vielfach thematisiert, die "Désinvolture" als die beinahe 'aristoktatische' Unantastbarkeit des Einzelnen, die mit Furchtlosigkeit und einem "ausgeprägten Glückswillen" einhergeht. Ein wichtiger Aspekt, der diese wie jede Form des Daseins grundiert, ist erstaunlicherweise die Theologie. Sader weist nachdrücklich auf Jüngers Bibellektüren in den "Strahlungen" hin und belegt, wie sehr dort das Subjekt metaphysisch verortet wird. Die "eigentlich menschliche, das heißt die aufrechte, Haltung" ist durch einen Dualismus von "Willensfreiheit und Determination" bestimmt. Die Freiheit des Einzelnen ist dabei immer zweifach bedroht: Zum einen durch das prinzipiell unerkennbare Schicksal und den Gang der Geschichte, zum anderen durch die kollektive Unfreiheit, wie sie sich mehr und mehr im 'Dritten Reich' konstituiert. Durch sie werden "Entschlüsse der Gattung" sichtbar, die der Einzelne weder beeinflussen noch durch besonderes Engagement - hier ist vor allem an die Attentate auf Hitler gedacht - grundlegend ändern kann.
Die "Strahlungen", als Selbstgespräch immer auch privater Kommentar aktueller Zeitgeschichte, enthalten auch zahllose Beobachtungen scheinbar irrelevanter Natur. Den persönlichen Obsessionen des Autors, darunter der Käferjagd und den Sammlungen, wird viel Platz eingeräumt. Einleuchtend auch hier, was Sader daraus abzuleiten weiß: "Das Vorgehen beschreibt den intellektuellen Radius des Diaristen und zugleich einen schützenden Raum, der dessen Welt repräsentiert". Auch hier wird Désinvolture spürbar: Eine Legitimation, sich durch quasi 'öffentliche Reden' des Journals einzumischen und Stellung zu beziehen, erwächst gerade aus dem kontrastiven Rückzugsraum der Sammlungen, denen die 'eigentliche' Leidenschaft des Autors gehört. Hier 'sammelt sich' der, der noch in der Zwischenkriegszeit mit politischen Kampfschriften eine - zumindest intellektuelle - Führerschaft für sich beanspruchte, und zwar dadurch, dass er sein Augenmerk auf die "verachteten und apokryphen Dinge" richtet, so wie es in Jüngers Parabel "Auf den Marmorklippen" der Erzähler und sein Bruder Otho in ihrer Rauten-Klause taten. Diese Sammelleidenschaft setzt den Mikrokosmos mit dem Makrokosmos in Beziehung und ist als solche Ausdruck einer privaten Theologie: "Ich muss mir Gott zunächst beweisen, ehe ich an ihn glauben kann."
Jörg Sader hat mit seinem Buch eine ungewöhnlich reichhaltige Jünger-Studie vorgelegt, die hier nur ansatzweise ausgelotet werden kann. Er hat zudem in einer kürzlich erschienenen Leonhard M. Fiedler-Festschrift, die noch eigens zu würdigen ist, einen spannenden Bogen zwischen Ernst Jünger und dem Maler Johannes Molzahn geschlagen und damit einen neuen Grenzgang zwischen Literatur und Bildender Kunst aufgezeigt.