Die Brieffreundin

Helmut Koopmann liest Goethes Korrespondenz mit Charlotte von Stein

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So oft wie ihr hat Goethe keiner anderen Frau je geschrieben. Über 1.700 Briefe an Charlotte von Stein hat er verfasst, seiner Weimarer Freundin immer und immer wieder versichert, wie sehr er sie schätzt, liebt und verehrt. Dieser häufig untersuchten Liebesgeschichte zwischen "Goethe und Frau von Stein" hat sich der Augsburger Literaturprofessor Helmut Koopmann angenommen. Anders als frühere Studien aber konzentriert sich der Literaturwissenschaftler ganz auf die Briefe und schöpft seine erhellenden Einsichten aus Goethes Korrespondenz mit Charlotte von Stein in den Jahren 1776 bis 1788.

Koopmann, der sich als Herausgeber des "Thomas-Mann-Handbuchs" einen Namen gemacht hat, hält nicht nur die Anzahl dieser Briefe für imposant. Ins Auge fällt ihm vor allem die Sprache der Briefe und Billets, die Goethe zuweilen mehrmals am Tag an seine Geliebte und Seelenfreundin schickt. Diese Sprache, von Koopmann treffend "Liebessprache" genannt, sei so einzigartig wie die Liebe Goethes zu der sieben Jahre älteren Charlotte selbst: "Nahezu jeden Tag sieht er sie, nahezu jeden Tag schreibt er ihr, gleichsam um ihre Gegenwart dauernd zu machen, indem er ihr gedenkt, wenn er schon nicht bei ihr sein kann. Wir sehen: das Schreiben ist Lebensersatz, ist Liebesersatz."

Wer so viel schreibt wie Goethe, noch dazu an die gleiche Adressatin, läuft Gefahr sich zu wiederholen. Aber seine "Poesie in Briefen", attestiert Koopmann, bleibt ein Unikat: "Er sagt liebe Worte dutzendfach, aber jede Botschaft ist anders, jedes Bekenntnis seiner Liebe einzigartig - es wiederholt sich so gut wie nichts in diesen Briefen, und er wird nicht müde, seine Liebessprache zu verfeinern." Hundertfach gesteht Goethe seine Liebe. Wenige Worte genügen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen: "Du lieber Magnet. Recht schön und artig wäre das Los, wenn es dich mir gäbe."

Ist die Briefpoesie also Ausdruck einer intensiven Bindung zwischen Goethe und Charlotte von Stein? Nicht nur. Für Koopmann sind die Briefe auch Zeugnis einer Goetheschen Sprachschule. Die Briefe, stimuliert durch die Geliebte, "waren auch Schreibkunst, ein jahrelanger Versuch, sich in einer neuen Sprache auszudrücken", erklärt der Literaturwissenschaftler Briefverkehr ist gleichsam auch Selbstzweck.

So originär und zugleich nützlich aber diese briefliche Liebessprache auch ist, unendlich war sie nicht. Als Goethe 1786 ohne Charlottes Wissen nach Italien reist, erhält die Beziehung einen Riss, die sich auch in den Billets und Aufzeichnungen widerspiegelt. Zwar versucht Goethe mit einem Brieftagebuch für die Weimarer Geliebte, das dreißig Jahre später von ihm unter dem Titel "Italienische Reise" veröffentlicht wird, den Schriftwechsel zu erhalten und sie seiner Zuneigung zu versichern, nie wieder aber sollte die Liebe zwischen beiden so wie vor der Reise sein.

In seinen Briefen war Goethe Charlotte stets nah. Wenn er ihr schrieb, war sie anwesend - auch wenn er tausende Kilometer von ihr in Italien weilte. Je länger er fort blieb, desto mehr verflüchtigte sich sein "Liebestraum" von ihr. War Charlotte also ein "Liebesphantom" Goethes? Koopmanns Ansicht zufolge nein: "Goethe hat oft genug von ihr geträumt, und alle seine Liebesbriefe sind ein einziger Traum. Es ist der Traum von einer unio mystica, der sich, wie alle Träume dieser Art, nicht erfüllen konnte. Goethe war glücklich, wenn er an sie schrieb. Und natürlich auch glücklich, wenn er sie sehen konnte. Aber man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, daß das Schreiben ihn am Ende glücklicher gemacht hat. Allein die Menge der Briefe ist ein Beweis dafür, daß es eine Liebe in Briefen war." In den Briefen vereinte sich Goethe mit Charlotte. "Anzunehmen ist: nur in ihnen. Das macht sie so kostbar", so der Literaturwissenschaftler

Helmut Koopmanns Buch erzählt die Geschichte der Liebe zwischen Goethe und Charlotte von Stein vom ersten Augenblick bis zum Ende der Beziehung. Das vertraute "Du" des Schriftwechsels wird sich nach Goethes Rückkehr aus Italien wieder ins distanzierende "Sie" wandeln. Aus der einstigen Geliebten wird eine enttäuschte Freundin, die in ihren Gefühlen tief verletzt ist. Koopmann rekonstruiert die Beziehung - vielleicht die intensivste, die Goethe je hatte - ohne Pathos. Er lässt die Briefe und damit Goethe sprechen. Wo die Korrespondenz endet - Charlotte hat ihre Zuschriften zurückverlangt und verbrannt -, scheut er indes nicht zu spekulieren. Kann ein Paar, das sich so leidenschaftlich schrieb, wirklich nur platonisch verbunden gewesen sein? "Ein junger ungestümer Goethe und eine ungemein attraktive, etwas ältere Frau, in einer lieblosen Ehe lebend, die diesen Namen kaum noch verdiente - sollte es wirklich bei den schwärmerischen Besuchen geblieben sein?" - das möge sich, so Koopmann, der Leser "selbst zusammenreimen".

Titelbild

Helmut Koopmann: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
279 Seiten, 20,50 EUR.
ISBN-10: 3406486525

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