Nietzsche als Psychoanalytiker

Klaus Gerhard Lickint entwirft eine Nietzscheanische Psychoanalyse

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Nietzsche ein ausgezeichneter Psychoanalytiker ist, dass die Umsetzung von Nietzsches eigenster Philosophie Psychoanalyse par excellence ist, das hat schon der Bestseller des amerikanischen Psychotherapeuten Irvin D. Yalom "And Nietzsche Wept" (1992; dt: "Und Nietzsche weinte", 1994) erzählt. In der fiktionalen Konstellation bringt Lou-Andeas Salomé Josef Breuer dazu, sich Nietzsches extremen psychischen Problemen anzunehmen. Um die Plausibilität der Konstruktion nicht zu gefährden, agiert der junge Freud nur im Hintergrund und tritt nicht direkt in Kontakt mit Nietzsche. Raffiniert ist der Gedanke Yaloms, den er 'seinem' Breuer eingibt. Um Nietzsche zu helfen, bringt Breuer Nietzsche dazu, ihm, Breuer, psychotherapeutisch zu helfen. Aus der Psychoanalyse Breuers durch Nietzsche wird die Selbstanalyse Nietzsches. Der Bestseller erzählt also von der Geburt der Psychoanalyse aus der Selbstanwendung von Nietzsches Philosophie. Die ganze Raffinesse besteht also darin, in dieser Figur der Selbstanwendung das psychoanalytische und psychotherapeutische Potential von Nietzsches Philosophie hervorzukehren.

Was der Roman noch als spannenden Plot entfaltet, wird durch die umfangreiche Studie von Klaus Gerhard Lickint auf eine systematische Basis gehoben. Aus der Idee des Romans, den - nota bene - Lickint nicht erwähnt, wird ein systematisches Handbuch, das auf über 600 Seiten und in 19 Kapiteln aufgeschlüsselt nahezu alle Aspekte von Nietzsches Philosophie auf ihre psychoanalytische Verwertbarkeit hin eingehend überprüft.

Die Reihe der Kapitel beginnt mit einer grundsätzlichen Verständigung über das Wesen der Psychoanalyse und behandelt dann Schritt für Schritt einzelne, zentrale Konzepte der Psychoanalyse aus der Perspektive dessen, was man hierzu aus Nietzsches Philosophie lernen kann. Sie beginnt mit dem Konzept des Unbewussten in seinem Verhältnis zum Bewusstsein, setzt sich fort über die Themenkomplexe Verdrängung, Sexualität, Narzissmus, Destruktion, Neurose, Moral, Subjektivität, Persönlichkeit und Macht bis hin zum Nihilismus und zum Mitleiden. Ein weiteres Kapitel gibt schließlich noch eine "Übersicht über sonstige psychoanalytische Sachverhalte", die sich nicht unter die Überschriften der großen Kapitel haben subsumieren lassen.

Das letzte Kapitel - mit "Propädeutik und Epilog" überschrieben -, das der Verfasser denjenigen, die Nietzsche weniger gut kennen, zur Erstlektüre empfiehlt, stellt Nietzsches philosophisches Programm zugleich als psychoanalytisches Programm dar. Wo Nietzsche die Philosophen der Zukunft zugleich als Psychologen charakterisiert, kehrt Lickint die Blickrichtung um, und fordert für die Psychoanalytiker der Zukunft eine an Nietzsche orientierte philosophische Schulung. Damit ist ein kritischer und konstruktiver Impetus verbunden. Lickint geht es gerade darum, durch eine Nachrüstung der Psychoanalyse mittels Nietzsche die Psychoanalytiker selbst gegen veränderte kulturelle, historische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu wappnen. Dass für den Psychoanalytiker diese Rahmenbedingungen neurotisch sind, muss nicht verwundern. Aber kulturelle Komplexität, durchaus auch in all ihren negativen Begleiterscheinungen gleich als psychopathogen und neurotisch einzustufen, wie es der Ansatzpunkt des Verfassers nahe legt, schießt über das Ziel und über Nietzsche hinaus.

Aber Lickint scheut sich nicht, Nietzsche für eine Psychohygiene der Psychoanalyse in Anspruch zu nehmen. So heißt es schon in den allerersten Zeilen des Buches, dass "Nietzsches Psychoanalytik - über Freud hinaus - wahrscheinlich der wirksamste psychohygienische Weg für Psychoanalytiker und letztlich für jeden [sei], so gesund als möglich zu werden und zu bleiben." Wer aber ohne eine kritische Reflexion schon von "der ganzen lebensfeindlichen Kulturneurotik" ausgeht, provoziert geradezu die Erinnerung an das Bonmot von Karl Krauss, wonach die Psychoanalyse jene Krankheit sei, für deren Heilung sie sich halte. Und wer so leichtfertig mit den Kategorien des Gesunden und des Kranken umgeht, bringt sich in einen schlimmen Verdacht. In jedem Fall aber scheint er Nietzsches philosophischen Impetus zu verfehlen.

Rückübertragen auf diese Form der psychoanalytischen Nietzsche-Rezeption steht doch immerhin zu vermuten, ob nicht die Vereinnahmung Nietzsches durch die Psychoanalyse, wie sie Lickint umfassend durchführt, weniger eine Nachrüstung darstellt, als vielmehr selbst auf jene konzeptionellen Schwächen aufmerksam macht, die die Psychoanalyse als theoretisches System und als Therapie-Praxis in bestimmten Varianten aufweisen kann, insbesondere nämlich die mangelnde Selbstkritik, die mangelnde Selbstbeobachtung, die Immunisierung gegen Kritik und die Selbstblindheit bei zentralen Konzepten wie dem des Unbewussten.

Man muss es Lickint zugute halten, dass die einzelnen Elemente seiner Nietzsche-Rezeption allesamt eine profunde Nietzsche-Kenntnis dokumentieren. Lickint kennt seinen Nietzsche sehr genau; er kann sich souverän in dem Nietzscheanischen Textuniversum bewegen. Alle seine Ausführungen erscheinen daher durch Nietzsche wohl gedeckt und begründet. Insofern lässt sich das Buch durchaus auch als Nietzsche-Kompendium lesen, dessen Funktion, Nietzsche aufzuschlüsseln, nicht gering veranschlagt werden darf. Obschon sich das Buch an Psychoanalytiker wendet und keineswegs den Anspruch einer Forschungsarbeit zu Nietzsche erhebt, ist es dennoch ein Beispiel umfassend und systematisch einführender Nietzsche-Literatur.

Aber genau hierin liegt das eigentliche Problem verborgen, an dem eine Kritik des Buches ansetzen kann, ja muss. Auch wenn vor allem Psychoanalytiker angesprochen werden sollen, so kann dies nicht heißen, die philosophische Konstellation, aus der Nietzsches Philosophie überhaupt erst zu verstehen ist, zu vernachlässigen. Und genau dies tut das Buch. Vor lauter psychoanalytischen Bäumen wird der philosophische Wald nicht mehr gesehen. Hier geht dem Buch eine gewichtige Begründungsebene verloren. Es ist geradezu symptomatisch, wie auf der einen Seite jedes einzelne Element geradezu didaktisch eingeführt und erläutert wird, z.B. wenn nicht nur der Begriff der Psychoanalyse, sondern selbst der Begriff der Schule erklärt wird, und wie auf der anderen Seite die eigentliche philosophische Schwerpunktsetzung im Gesamtzusammenhang unberücksichtigt bleibt. Bezeichnend ist auch, dass Lickint sich explizit nicht direkt mit Freud auseinandersetzt und ihn nur dort erwähnt, wo die Hintergrundinformation zur Freudschen Psychoanalyse nicht fehlen darf. Aber eine direkte und explizite Konfrontation von Nietzsche und Freud hätte jenen Zusammenhang zutage gefördert, der die Grundlage für Nietzsches Bedeutung für die Psychoanalyse darstellt.

Das Problem lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen. Die vorliegende Arbeit geht von einer Psychoanalyse im kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Umfeld aus, die selbst nicht in Frage gestellt wird. Hier wird die Arbeit bzw. ihre Vorstellung von Psychoanalyse ideologisch. Dass auch die Psychoanalyse als theoretisches System auf den Prüfstand gestellt wird, das wird man sicherlich nicht von einem Buch verlangen, das ein Psychoanalytiker für Psychoanalytiker schreibt. Aber man muss es geradezu von einem Buch verlangen, dass sich in diesem Kontext auf Nietzsche beruft. Dass Lickint eine kritische Haltung vorgibt, bleibt ohne Bedeutung. Nietzsche wird so auf Geschichts- und Kulturkritik reduziert; und nur in dieser Form wird seine Philosophie psychoanalytisch aufgenommen. Zweifellos, Nietzsche hat diese Kritik geübt, so radikal wie kaum ein anderer, aber das Radikale, zugleich das Spezifische seiner Kritik ist ja immer auch eine Kritik der Kritik. Diese Bewegung macht Lickint nicht mit. Wer also Nietzsche ernst nimmt, kommt um eine Grundsatzreflexion dessen, was er tut, wenn er ein solches System wie das der Psychoanalyse theoretisch mit vollzieht und zudem praktiziert, nicht herum. Und genau diese Grundsatzreflexion unterbleibt - aus welchen Gründen auch immer.

Wenn denn Nietzsches Philosophie überhaupt eine Bedeutung über die bloße Illustration einzelner Theoriebausteine hinaus haben soll, dann doch die, dass mit seiner Philosophie in radikaler Weise versucht wird, die Bedingungen des eigenen Ansatzes kritisch, ja auch subversiv selbst noch einmal einzuholen. Die vorliegende Arbeit ist eine psychoanalytische Arbeit, die Nietzsche für die Psychoanalyse adaptiert. Sie entwickelt aber keine übergeordnete Position, die selbst noch einmal Nietzsches Philosophie und die Psychoanalyse in ein kritisches Verhältnis setzt.

Und hier wird es doch eigentlich erst spannend. Denn dass Nietzsche für die Psychoanalyse von größter Bedeutung ist, wird niemand bestreiten wollen oder können. Doch das spannungsreiche Verhältnis grundsätzlicher Fragestellungen wird von Lickint auf bloße Adaptionen heruntergeschraubt. Zugegeben dient dies auch der Vermittlungsintention des Buches, wird aber gerade bei einem Denker wie Nietzsche äußerst problematisch. Zentral sind hierfür die Themenkomplexe des Bewusstseins und des Subjekts. Nietzsche ordnet sich hier wie Freud in einem Gesamtzusammenhang radikalisierter Subjektkritik ein, die sich in einem gigantischen Spannungsbogen im Ausgang vom Idealismus bis über den Jahrtausendwechsel hinaus im westlichen Denken facettenreich formiert. Gerade in ihren Unterschieden können sich diese Positionen wechselseitig erhellen. Nietzsches Ausgangspunkte liegen in der Überwindung und Ablehnung des deutschen Idealismus nicht zuletzt durch Schopenhauer. Er ersetzt die Vorstellung eines sich selbst wissenden Bewusstseins durch eine Instanz, die der Reflexivität des Bewusstseins noch vorausgeht. So ist vor allem der Wille zur Macht als ein Versuch zu verstehen, ein Prinzip anzunehmen und zu begründen, das selbst nicht reflexiv ist und jeder Reflexion, jedem reflexiven und jedem reflektierten Zugriff noch vorausgeht. Der Wille zur Macht ist die Destruktion einer Vorstellung vom Subjekt, das sich seiner selbst bewusst ist, ebenso wie die Idee der ewigen Wiederkehr die Destruktion teleologischer Vorstellungen in der Subjektentwicklung ist. Es geht also Nietzsche darum, Begründungsmechanismen, die sich selbst als unhintergehbar inszenieren, wie beispielsweise das Subjekt, zu durchschauen und subversiv auszuhebeln.

Dass dies auch eine Psychoanalyse beinhaltet, versteht sich von selbst, geht es doch gerade darum, die unhinterfragten Voraussetzungen von Subjektivität selbst noch einmal zu hinterfragen. Eine nietzscheanische Psychoanalyse müsste sich also auf jene uneinholbaren Voraussetzungen des Subjekts konzentrieren, die das Subjekt in seiner Selbstkonstitution - in seinem Willen zur Macht - konstitutiv ausschließen muss. Das Unbewusste erscheint aber so als formale und negative Struktur, die lediglich anzeigt, dass das Bewusstsein das Subjekt nicht begründen kann, dass das Subjekt, das sich als Grund ausgibt, in Wirklichkeit selbst von Faktoren begründet wird, auf die es keinen Zugriff hat.

Von Nietzsche könnte so die Psychoanalyse lernen, nach ihren eigenen, unhinterfragten Voraussetzungen zu fragen, z. B. ob nicht das Unbewusste allzu schnell mit neurotischen oder psychotischen Ursprungserfahrungen inhaltlich gefüllt wird und damit selbst zu einer Begründungsinstanz wird, auf das sich z. B. neurotische und psychotische Störungen zurückführen lassen. Denn das scheint eine Praxis der Psychoanalyse zu sein, die auch bei Lickint durchscheint. Das Unbewusste wird so nämlich zu einer Negativvariante des Bewusstseins als Subjektbegründung gemacht. Würde man mit dieser Blickrichtung Nietzsche auf die Psychoanalyse anwenden, so erschienen Nietzsches subversive Denkfiguren - prägnant ausgedrückt - als das von der Psychoanalyse in ihrem eigenen Theorieaufbau Verdrängte.

Von Nietzsche könnte die Psychoanalyse auch lernen, ihre eigenen ideologischen Voraussetzungen kritisch offenzulegen, noch deutlicher gesagt: sich selbst in Frage zu stellen. Selbstinfragestellung - das ist der eigentliche Hammer, mit dem Nietzsche zu philosophieren trachtete. Nietzsche hat das Risiko der Konsequenzen der Selbstinfragestellung getragen - selbst um den Preis seiner eigenen intellektuellen Verfassung. Und dies zeigt: So produktiv eine solche Selbstinfragestellung auf dem Gebiet der Theorie sein mag, so gefährlich kann sie auf dem Feld der therapeutischen Praxis werden. Vielleicht liegt hierin der Grund, warum Lickint vor einer solchen Funktionalisierung Nietzsches zurückschreckt.

Titelbild

Klaus Lickint: Nietzsches Kunst des Psychoanalysierens.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
556 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3826019261

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