"Ficken und schreiben"

Melvin Jules Bukiet hat eine Anthologie jüdischer Neu(e)rotica zusammengestellt

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer längeren Rezension legt Maxim Biller dem Amerikaner Philip Roth ein ästhetisches Credo in den Mund, das die Verzahnung des jüdischen Diskurses in der deutschen und amerikanischen jüdischen Gegenwartsliteratur erahnen lässt: "Ich bin Künstler; ich werde nicht - bloß weil Hitler und Goebbels einst ihr Unwesen trieben - irgend etwas verschweigen. Ich will über mich, über die Juden lachen. Jedes Volk hat sein Wachsfigurenkabinett mit Helden, Anti-Helden, Nicht-Helden, mit Guten und Schlechten. Ich bin für das jüdische Panoptikum verantwortlich. Ich bin ein jüdischer Schriftsteller, und ich lasse mir von den Nazis nicht nachträglich das Lachen verbieten. Ich will lachen und mich danach besser fühlen. Ich weiß, wie schwer, wie unmöglich das ist, denn so gleichgültig bin ich nicht, daß ich vergessen könnte, daß im letzten Krieg sechs Millionen vernichtet wurden. Verflucht: Ich kann es trotzdem nicht lassen, ketzerische Witze zu reißen, ich will mich - so wie die Kinder der Verbrecher übrigens - endlich von meinem Trauma befreien. Ein unlösbarer Widerspruch."

Mit diesem imaginierten inneren Monolog des amerikanischen Schriftstellers Philip Roth fordert Biller ästhetische Ausdrucksfreiheit für die Darstellung jüdischer Lebenswelten der Nachkriegszeit, die ausdrücklich als Privileg jüdischer Autoren deklariert wird. Das Dilemma Roths, so Biller, entsteht in der aus der Shoah erwachsenen Verpflichtung zum Respekt gegenüber den Toten, die ihn andererseits aber nicht daran hindern kann, seinem Volk auch kritisch und ironisch zu begegnen. "Juden funktionieren genauso wie alle anderen Menschen", so Biller in einem Interview, und eine jüdische Literatur, die sich das nicht eingesteht, halte sich selbst die Freiheit vor, die andere Literaturen als conditio sine qua non ihrer Freiheit betrachten.

Gleichwohl aber weiß auch Biller um die Kontextgebundenheit ästhetischer Verfahren und Möglichkeiten, die nicht zuletzt von der Vergangenheit eines Landes, in dem sie entstehen, abhängig sind. So könne es in den USA eine "extreme Art von jüdischer Literatur" geben, die im Nachkriegsdeutschland "undenkbar wäre, weil hier die Last des Holocaust und der unmittelbaren Betroffenheit zu schwer wiegen". Aber: Was lässt die in den USA erscheinende jüdische Literatur als "extrem" erscheinen? Die kanadische Judaistin Ruth R. Wisse hat schon 1976 an dem Entwicklungsstand der amerikanischen jüdischen Nachkriegsliteratur kritisiert, dass sie sich beinahe ausschließlich auf die Zwillingsthemen Randgruppen- und Opferdasein aus der erstarrten Erzählperspektive neurotischer Söhne mit sexuellen Obsessionen konzentriere. Billers Erzählung "Harlem Holocaust", in dem der deutsche Medienerfolg des in seiner amerikanischen Heimat kaum bekannten jüdischen Schriftstellers Warszawski beschrieben wird, kommentiert in aufschlussreicher Weise diese auch im deutschen Kulturbetrieb anzutreffende Stereotype über jüdische Autoren aus den USA. Biller bricht die Stoßrichtung dieser Beobachtung, indem er sie seinem nichtjüdischen Ich-Erzähler - dem "Tätersohn" Rosenhain - in den Mund legt, der nicht zuletzt aus "Gier nach Schuld und Entsühnung" als der deutsche Übersetzer Warszawskis arbeitet. Wenn der junge Ich-Erzähler später in pornographischen Bildern über die sexuellen Eskapaden des amerikanischen Schriftstellers phantasiert, mokiert sich Biller über die Art und Weise, wie die jüdische Literatur aus den USA die Phantasien der deutschen Leser bewegt: als Melange aus jüdischer Psyche und jüdischem Eros. Indem Biller die Projektionen seines Ich-Erzählers über jüdische Sexualität aus dem Repertoire der amerikanischen jüdischen Literatur entstammen lässt, formuliert er eine wichtige Einsicht in die prekären Rezeptionsbedingungen des literarischen jüdischen Diskurses, der sich wie jeder kulturelle Diskurs gesellschaftlicher Minoritäten nicht davor schützen kann, von Außenstehenden missverstanden, verzerrt oder zu gegenteiligen Zwecken vereinnahmt zu werden.

Konträr zu den Beobachtungen Billers steht auf den ersten Blick eine Anthologie, deren deutscher Untertitel vorauszusetzen scheint, dass es in Deutschland nach 1945 als Reaktion auf den nationalsozialistischen Exzess zu einer - nun exzessiv korrekten - Anforderung an deutsches Verhalten wurde, sich Juden über allen Niederungen der Sexualität schwebenden Wesen vorzustellen. Der Untertitel des Sammelbandes "Neurotica", der siebenundzwanzig Kurzgeschichten erotischen Inhalts in Übersetzungen aus der gegenwärtigen amerikanisch-jüdischen Literatur präsentiert, raunt in schwer zu überbietender Peinlichkeit: "Juden tun es auch." Schaut man sich den lakonisch-banalen Untertitel der amerikanischen Originalfassung - "Jewish Writers on Sex" - an, drängt sich der Eindruck auf, dass diese offenkundige Differenz nicht allein auf eine spezifisch deutsche Verklemmtheit verweist, sondern auch auf eine voyeuristische Faszination angesichts der Frage, ob Sex (spezifisch) jüdischer Natur sein könne. Was aber kann und soll das Anliegen einer Textsammlung über 'jüdischen' Sex sein? Gibt es diesseits böswilliger Klischeebildungen denn wirklich national und kulturell spezifische Formen von Sexualität? Genau diese Ansicht scheint Melvin Jules Bukiet, ein New Yorker Literat und der Herausgeber dieser Neu(e)rotika-Anthologie, zu suggerieren: "Insofern als das heftige Verlangen die Beschaffenheit des Menschen und das Kommentieren die Haltung der Juden ist, versucht Neurotica die reiche Vielfalt der sexuellen Erfahrungen eines Volkes in all ihrer herrlichen und fruchtbaren Universalität widerzuspiegeln."

Konsequent lockt Bukiet mit einer Mischung aus pseudo-intellektuellem und verhalten pornographischem Diskurs: "Religion und Sex sind keine gegensätzlichen Bestrebungen des Menschen, nein, sie funktionieren in Wahrheit analog: Sie siedeln die Erlösung nur an verschiedenen Orten an. Der Sex ist, wie die Religion, eine versöhnliche Macht, die soziale Ungerechtigkeit ausgleicht. In beiden seiner sinnlichen und fortzeugenden Prozesse schafft der menschliche Verkehr (in beiden seiner großartigsten Verkörperungen: nämlich Ficken und Schreiben) eine Entschädigung dieser Welt für Verlust, Mangel und, vor allem, Sterblichkeit. Sex und Geschichtenerzählen sind die Gaben, die aus einem Schneider einen König, aus einer Näherin eine Königin machen. Das Laken ist, wie das Blatt des Schriftstellers, ein sauberer, weißer Thron, der allen zugänglich und, weil jedes Geschenk seinen Preis hat, auch für alle gefährlich ist." "Neurotica" sucht deshalb vor allem die Werke heraus, die "die stürmische Verbindung zwischen Biologie und Theologie deutlich machen, die in dieser einen Kultur möglich sind. Erleben Sie das Volk des Gesetzes im Bett." Bukiet hat also Texte über ein bestimmtes Thema versammelt, die ausnahmslos von Autoren einer kulturellen Minorität innerhalb der amerikanischen Literatur und von einer spezifischen Generation innerhalb dieser Minderheit geschrieben wurden. Es geht also - literaturwissenschaftlich und mit den Worten von Gilles Deleuze und Félix Guattari gesagt - vor allem darum, ein Segment aus der amerikanisch-jüdischen Literatur als einer "littérature mineure" zu dokumentieren und zu illustrieren. Wie intellektuell harmlos die Einleitung zu "Neurotica" und wie radikal unprätentiös vor allem das an den Autorennamen ausgerichtete alphabetische Präsentationsprinzip des Bandes auch sein mögen, einen Aspekt wird man während der Lektüre nie los: den Umstand nämlich, dass die Konfiguration von jüdischen Autoren mit dem Thema neurotischer und sexueller Obsessionen eine Lesehaltung steuert, die sonst vielleicht eher untergeordnet wäre. Gibt es daher - fragt man sich immer wieder gegen alle Hemmungen einer political correctness - so etwas wie eine typisch jüdische Sex-Erfahrung oder doch wenigstens typisch amerikanisch-jüdische Diskurse über Sex, die sich in Literatur kondensieren lassen?

Was also enthält die Sammlung? Sie enthält "normalen Sex, schwulen Sex, ehelichen und unehelichen Sex, sinnlichen, platonischen und miserablen Sex." Stilistisch reichen die Geschichten "vom sozialen Realismus der Slums bis zum magischen Realismus des Himmels. Inhaltlich gehen manche von ihnen den Konflikten zwischen den Geschlechtern auf den Grund, während andere tiefe, bleibende Verbindungen unter den Geschlechtern postulieren. [...] Und so beschäftigen sich viele Geschichten mit den gegensätzlichen Stereotypen: jüdische Asexualität einerseits, jüdische Hypersexualität andererseits." Diese "jüdische Textur" konkretisiert sich in vier Texttypen. Es gibt erstens kleine Sexgeschichten in der Kulisse der vergangenen "Stetl"-Romantik, für die vor allem der Name Isaac Bashevis Singers steht. Von ihm stammt auch die hier ausgewählte bittersüße Geschichte von der verlassenen Ehefrau, die daran glauben will, dass es ein Dämon - und nicht der asthmatische Hilfslehrer - ist, der sie zweimal pro Woche in den Himmel der Lüste entführt.

Zum zweiten findet man fast immer in New York, dem Epizentrum dieser Konfiguration von Neurotica und Erotica, inszenierte Stories, deren Protagonisten dem von Woody Allen kreierten Typus des "Stadtneurotikers" abgeschaut sind. Dazu gehört natürlich auch eine Geschichte des Meisters selbst, "Der Falke im Malteser", an der jüdisch eigentlich nur die in der Erinnerung des Lesers zu aktivierende physische Erscheinung des genialen Schauspielers und Regisseurs ist, die einen grotesken Kontrast zu dem Erzähler-Ich im Bogart-Verschnitt darstellt: Kaiser Lupowitz, der Erzähler, zerstört einen Ring von Callgirls, die ihren stadtneurotischen Kunden statt Sex akademische Konversation über hohe und höchste Literatur (von "Moby Dick", über "Waste Land", "Paradise Lost" bis hin zu den "Techniken des radikalen Willens" und Noam Chomsky) anbieten. Ebenfalls in diese Reihe passt Max Apples recht amüsanter Text "Der achte Tag", in dem sich ein jüdischer Liebhaber von seiner nicht-jüdischen Freundin dazu überreden lässt, das vermeintliche Primärtrauma seiner Beschneidung noch einmal zu "bearbeiten", eine Therapie, die in der Neu-Beschneidung durch einen von so obsessiver Selbstreflexion ganz verstörten Rabbiner gipfelt.

Der dritte Texttyp versammelt Erzählungen, die die jeweiligen Besonderheiten verschiedener jüdischer Milieus mit einer bisweilen zermürbenden Liebe zum sexuellen Detail ausmalen. So kann der Leser einer gemeinsamen Masturbation eines Jungen aus der jüdischen Oberschicht mit dem ihn drangsalierenden Proletarierkind beiwohnen; er lernt das jüdische Kleinbürgertum der zwanziger Jahre in einer geschwisterlichen Inzest-Beziehung kennen; ihm wird die Bronx mit den Augen einer in die Jahre gekommenen Frau vorgeführt, die auf den Heavy Metal-Musiker Axl Rose steht, ihren Alltag aber in dem Glauben bestreiten muss, dass der übergewichtige orthodoxe Jude, der ihr Liebhaber zu sein versucht, eine Reinkarnation von Elvis Presley ist. Auch die exklusive Universitätswelt von Princeton darf nicht fehlen, in der die Verführung des genialen Mathematikers Himmel durch eine Doktorandin situiert ist, die intellektuelle Ergüsse prinzipiell über sexuelle stellt. Zu dieser Gruppe gehören auch zwei Texte, die den schuldbeladenen deutschen Leser und seine masochistischen Genüsse nicht vergisst. In dem ersten gerät ein aus Bielefeld stammender grün-progressiver Biologe in sexuelle Erregung zu einem jüdischen Teenagergirl, das er während ihrer Europareise in einer Jugendherberge kennen gelernt hat. Schließlich setzt in der zweiten Geschichte der schwule Hannes aus Frankfurt alles daran, von einem amerikanischen Besucher vergewaltigt und dann möglichst auch noch beschnitten zu werden, was allerdings ähnlich erfolglos verläuft wie die Erregung seines heterosexuellen Pendants aus der ersten Geschichte. Schließlich gibt es viele Texte, in denen die jüdischen Autoren verzichten, den literarisch gestalteten Sex explizit mit ihrer Kultur oder Religion in Verbindung zu bringen. Darunter befinden sich so geniale Texte wie Jerzy Kosinskis wahrhaft feuriger Monolog "Aus den Feuern" und Harold Brodkeys berühmt-berüchtigter Text "Unschuld", in dem der Autor seinem Ich-Erzähler fünfzig mit technischen Details gefüllte Seiten einräumt, auf denen geschildert wird, wie eine emanzipierte Vamp-Geliebte zu ihrem ersten wahren Orgasmus findet. Nicht fehlen darf natürlich der eingangs erwähnte Philip Roth, der den Zahnarzt Henry Zuckerman in einer Passage aus seinem Roman "Gegenleben" die glückliche, weil vielfältig sexuelle Energien frei setzende Intuition haben lässt, der jüngst engagierten Sprechstundenhilfe vorzuschlagen, man solle nach Feierabend "doch einfach so tun, als ob man Dr. Zuckerman und seine Assistentin Wendy sei".

Der Spaßeffekt, den ein deutscher Leser bei diesen Texten ausbildet, dürfte individuell verschieden sein. Der Lerneffekt könnte jedoch folgendermaßen präzisiert werden: Er lernt vor allem, dass viele Autoren dieser "littérature mineure" Sex für ein obsessives Thema halten, das sich zudem zur Charakterisierung historischer und gesellschaftlicher Milieus eignet. Aus dieser Freude an literarischer Genremalerei haben sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Subgattungen herauskristallisiert: die "Stetl"-Geschichten und die "Stadtneurotiker"-Geschichten. Dennoch gibt es in dieser Sammlung Aufregenderes zu erfahren als die sexuellen Phantasien eines heidnischen Rabbiners, die spezifischen Bedingungen, unter denen ein jüdischer Zahnarzt oder andere mehr oder weniger intellektuelle Zeitgenossen zum Orgasmus kommen. Die sexuell wirklich erregenden Texte dieser Anthologie hingegen lassen die Konfiguration von jüdischem Eros und Nationaltypologie völlig außer Acht, sie beginnen dort zu wirken, wo die Sprache aussetzt. Lässt sich daraus der Umkehrschluss ziehen, dass Erotik da anfängt, wo die Sprache, wo das für den Text Erreichbare endet? In jedem Fall lassen sich unter diesem Blickwinkel so manche Trouvaillen in der Sammlung finden. Blendet man die vollmundig naiven Sentenzen des Vorworts einmal aus, darf man sich an einem Feuerwerk hochgradig witziger und lebendiger Texte erfreuen. Um es mit Roland Barthes auszudrücken: "Jedesmal wenn ich versuche einen Text zu 'analysieren', der bei mir Lust erregt hat, dann finde ich nicht meine 'Subjektivität' wieder, sondern mein 'Individuum', die Gegebenheit, die bewirkt, daß mein Körper von den anderen Körpern getrennt ist, und ihm sein Leiden oder seine Lust zueignet: es ist mein Körper der Wollust, den ich wiederfinde."

Titelbild

Melvin Jules Bukiet: Neurotica. Juden tun es auch. Anthologie.
Luchterhand Literaturverlag, München 2001.
510 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3630870961

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