Pars pro toto

Jonathan Franzen hält der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor

Von Janine BachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Janine Bach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich". Mit diesen Worten leitet Graf Leo Tolstoi als einer der bedeutendsten und einflussreichsten russischen Schriftsteller gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen Roman "Anna Karenina" ein und deutet an, dass gerade das Unglück eine viel zu mannigfaltige Erscheinung ist, um nur annähernd die Ursachen und Ausprägungen des Unglücks der einen mit dem Unglück einer anderen Familie vergleichen zu können. Eine ganz bestimmte Familie aber als Repräsentanten für unzählige unglückliche Familien und gleichsam als Stellvertreter einer ganzen Gesellschaft zu bestimmen, ist genau das, was der amerikanische Schriftsteller-Shooting-Star Jonathan Franzen mit seinem Roman "Die Korrekturen" vollbringt.

Franzen schreibt in Form des auktorialen Erzählers des 19. Jahrhunderts und liefert mit diesem Gesellschaftsroman ein Genre, das bis dato für verbraucht und nicht mehr gegenwartstauglich befunden wurde. Was macht diesen Roman also jetzt zum Bestseller?

Inhaltlich sowie erzähltechnisch hat der Roman nicht viel Neues zu bieten: eine gewöhnliche Familie aus dem mittleren Westen der USA, bestehend aus dem pensionierten Alfred Lambert, seiner Frau Enid und den drei erwachsenen Kindern Chip, Gary und Denise. Der nach Philadelphia übergesiedelte Gary Lambert kann bereits eine reizende Familie mit ebenfalls drei Kindern sein eigen nennen. Finanzielle Sorgen braucht er sich keine zu machen. Was an ihm nagt, ist die paranoide Wahnvorstellung, er könnte Depressionen haben und die für ihn schockierende Erkenntnis, seinem Vater im Alter immer ähnlicher zu werden. Das Nesthäkchen Denise hat bereits eine gescheiterte Ehe sowie eine erfolgreiche Karriere als Küchenchefin eines Nobelrestaurants hinter sich. Ihr Boss hatte sie gefeuert, nachdem er herausgefunden hatte, dass Denise nicht nur mit ihm, sondern auch mit seiner Frau geschlafen hatte und Chip, dessen Universitätslaufbahn wegen einer Affäre mit einer Studentin ein jähes Ende nahm, verdient nun sein Geld im baltischen Litauen mit illegalen Internet-Geschäften. Besonders die beiden Letztgenannten machen der Mutter keine Freude, fristen sie doch ein in Enids Augen unmoralisches Dasein und haben im Gegensatz zu Gary noch so gar nichts im Leben erreicht. Sie selbst möchte, jetzt da Alfred und sie im Rentenalter sind, ihr Leben endlich so genießen, wie es auch alle ihre Freunde tun. Die haben ihrer Meinung nach nämlich alles im Leben richtig gemacht und können sich jetzt über dicke Aktiengewinne freuen. Alles hätte so schön sein können, hätte Alfred nur auf sie gehört und ebenfalls zur richtigen Zeit das Ersparte in Wertpapieren angelegt. Nun leidet er auch noch an Parkinson und der erhoffte harmonische Lebensabend droht dem Chaos anheim zu fallen. Der Wunsch Enids nach einem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest in St. Jude mit den Kindern und Enkeln bildet den Dreh- und Angelpunkt der gegenwärtigen Handlung.

Doch bis dieser Wunsch Wirklichkeit werden kann, nimmt Franzen den Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit der Familie Lambert. Retrospektiv erzählt er, wie Enid und Alfred sich kennen lernten, wie nach anfänglicher Verliebtheit schnell Langeweile und Kälte in das Eheleben einzogen, wie die beiden Elternteile sich, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, mehr und mehr voneinander entfremdeten und ihren Kindern aus diesem Grunde kein homogenes und gesundes Elternhaus bieten konnten. Dabei knöpft sich Franzen jede der fünf Figuren einzeln vor, schildert jeden einzelnen Werdegang aus der ganz persönlichen Sicht des jeweiligen Protagonisten und entwirft auf diese Weise ein vollständiges Bild einer nach außen intakten aber innerlich maroden Familie, in der keiner in der Lage ist, die eigenen Fehler und Schwächen zu erkennen, um produktiv damit umzugehen, und jeder auf die eine oder andere Art an dem Versuch scheitert, in einem einsamen und fast kämpferischen Akt das eigene Leben sowie das der anderen zu manipulieren, ja zu korrigieren.

Franzens "Die Korrekturen" erinnert stark an den "Tod eines Handlungsreisenden" von Arthur Miller und wurde von deutschen Literaturkritikern nicht selten mit den "Buddenbrooks" verglichen, da hier wie dort eine Familie und deren Unglück als Repräsentant für die pathologischen Strukturen einer ganzen Gesellschaft fungiert. Kennt man also doch alle unglücklichen Familien, wenn man diese eine aus St. Jude kennt? Zumindest im Fall der "Korrekturen" scheint dies zuzutreffen. Mittels seines Romans und des Einzelschicksals der Familie Lambert ist es Jonathan Franzen aufs Vortrefflichste gelungen, der amerikanischen Wohlstands-Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, die geprägt ist vom Ideal des American Dream, der ein Scheitern nicht vorsieht, vom Kapitalismus und von moralischem Konservatismus. Zwar ist bei den "Korrekturen" nicht von einer Revolutionierung des Genres des Gesellschaftsromans zu sprechen, aber Franzen trifft mit seiner Kritik genau zum richtigen Zeitpunkt ins Herz eines gesellschaftlichen Systems, wie es sich auch in Europa immer mehr zu manifestieren scheint.

Nicht nur der amerikanische, sondern auch der deutsche Mittelklassebürger kann sich mit den Lamberts identifizieren, sei es nun in der Rolle des jungen Familienvaters Gary, des gescheiterten Professors Chip, der bisexuellen Denise oder eben der beiden Rentner Enid und Alfred. Die Literaturszene scheint geradezu auf jemanden gewartet zu haben, der es wagen würde, einen solchen Roman zu schreiben, der es endlich einmal wieder schafft, einer modernen und konturlosen Gesellschaft ein Gesicht zu verleihen, selbst wenn es ein erschreckendes Bild ist, das dort gezeichnet wird.

Titelbild

Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
780 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3498020862

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