Schmetterlinge im Verpuppungsstadium
Richard Yates beeindruckendes Familien- und Beziehungsepos in "Zeiten des Aufruhrs"
Von Michael Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Jahr 1935 steht der kleine Frank Wheeler staunend vor dem hohen, unschönen Knox-Building in Manhattan, denn er begleitet seinen Vater, der für das Unternehmen arbeitet, zu einem Mittagessen mit dessen Boss; dabei wird er, ohne es in dem Moment schon zu verstehen, zum Zeugen des Anfangs vom Ende der Karriere des Vaters. Mitte der Fünfziger Jahre geht Frank dann an jedem Tag im gleichen Gebäude ein und aus, denn er hat dort einen Job in der Verkaufsförderung angenommen. Er ist nun Ende Zwanzig und verheiratet, hat zwei Kinder und ein bescheidenes Haus in einem Vorort in West-Connecticut. Er teilt sich mit Kollegen ein Büro im 15. Stock, und im Vorzimmer arbeitet eine junge Frau, mit der er irgendwann eine lustlose Affäre beginnt.
Nach dem Krieg hat er zunächst ein paar Jahre lang studiert, sich in Greenwich Village herumgetrieben und mit älteren Freunden eine kleine Wohnung genutzt, um sich dort mit Mädchen zu treffen. Als Hafenarbeiter hat er nebenbei Geld verdient, und ab und an mit dieser groben Tätigkeit auch kokettiert, weil er doch eigentlich ein vielversprechender Junge zu sein glaubte, womöglich ein Intellektueller oder ein Künstler, jedenfalls ein Schmetterling im Verpuppungsstadium.
Seine große Zeit ist jedoch nie gekommen, statt dessen ist die Unzufriedenheit gewachsen, denn er glaubt immer noch gerne, dass er moderat gegen den Strom schwimmt. Aber das Leben macht es ihm nicht leicht: Seine Frau April ist "sieben Jahre zu früh" schwanger geworden, also hat er sich die uninteressanteste Arbeit gesucht, die er finden konnte, um die Familie zu ernähren und trotzdem nicht von seinen hehren Ideen abgelenkt zu werden: So zu sein wie alle anderen, ist nur ein Behelf auf Zeit - de facto aber ist Frank dort gelandet, wo auch schon seine Eltern unglücklich wurden.
April und Frank Wheeler sind die Helden in Richard Yates' vierzig Jahre altem Roman "Revolutionary Road". Das Buch erregte Aufsehen, als es 1962 veröffentlicht wurde, verkaufte sich aber nicht besonders gut. Yates, geboren 1926, schrieb weitere Romane, aber ihm gelang über Jahre kein weiteres, ähnlich eindringliches Werk. Er kämpfte mit dem Alkohol, verdingte sich als Redenschreiber für Robert Kennedy und übernahm Lehrtätigkeiten. Erst mit "The Easter Parade" (1974) meldete Yates sich unüberhörbar zurück, gelesen wurde er aber weiterhin selten und daran änderte sich auch bis zu seinem Tod 1992 nichts mehr.
Mittlerweile zählt er zu jenen Autoren, welche die undankbare Ehre eines "Writer's writer" beanspruchen dürfen. Michael Chabon hat ihn jüngst gerühmt und vor allem Stewart O'Nan hat Yates' sieben Romane und die Erzählungen in einem eingehenden Aufsatz für die "Boston Review" 1999 wieder in Erinnerung gerufen und sie neben die Werke von John Cheever gerückt. Das hat als Anstoß zu Neuauflagen in den USA gereicht - und auch zu einer zeitgemäßen deutschen Übersetzung von "Revolutionary Road". Volk und Welt hatte den Roman schon einmal 1975 unter dem Titel "Das Jahr der leeren Träume" in der DDR herausgebracht und eine Buchclub-Ausgabe für den Westen gestattet. Für die DVA hat Hans Wolf sich nun aber noch einmal ganz neu an die Arbeit begeben.
"Zeiten des Aufruhrs" führt zurück in das Jahr 1955, in die Vororte, die um New York herum in diesem Jahrzehnt überall aus dem Boden sprießen, weil sie den Mittelschichtfamilien ein geruhsameres Leben versprechen als die laute und teure Stadt. Die Männern pendeln Tag für Tag zur Arbeit, die Frauen hüten Haus und Kinder, und am Wochenende beansprucht der Vorgarten die überschüssigen Energien. Die Revolutionary Road - schon der Name ist bitterster Hohn - ist der Fluchtpunkt aller bürgerlichen Emanzipation, in diesen Eigenheimen endet, was mit der Unabhängigkeitserklärung und im Frankreich von 1789 begonnen hat.
Richard Yates hat das selbst so erläutert - und man weiß nicht, ob er lachen oder weinen möchte, wenn er in die Köpfe der Menschen und in ihre Häuser schaut. Er beschreibt die Einförmigkeit der Neubauten und die faulen Kompromisse, die sie erzwingen; er geißelt die Austauschbarkeit der Einrichtungen, die mit der Austauschbarkeit der Bewohner korrespondiert. Wie mit einer Lupe und ohne jemals locker zu lassen, breitet er das ganze Elend einer Vorortsiedlung aus, in der sich ein jüngeres Bürgertum angesammelt hat, um sich zu verwirklichen, um Wurzeln zu schlagen und um hier und da vielleicht auch in guter, aber legerer Kleidung den Darbietungen einer Laienschauspielgruppe zu folgen - eine Welt voll schrecklicher Selbsttäuschungen und allseitiger Heucheleien, der April und Frank dann irgendwann entfliehen wollen, weil sie sich entgegen aller Erfahrung weiterhin für etwas Besseres halten.
Davon vor allem erzählt der Roman: von dem Wunsch die Zelte in dieser dumpfen Umgebung abzubrechen und in Europa ein neues Leben zu beginnen - und natürlich von den Folgen dieser tollkühnen Idee. Von den Energieschüben, die dadurch ausgelöst werden, und davon, wie die Existenz einer Familie zerstört wird, weil irgendwann die Angst vor der eigenen Courage zu groß wird, weil die Euphorie verfliegt, während die Beziehungsmuster, die Rituale des Streits, nur immer stärker hervortreten. Es genügen Kleinigkeiten, um die bittersten Anklagen zu provozieren - und Richard Yates schreibt alles auf.
Passagenweise mag die Erzählweise des Romans heute ein wenig breit und überdeutlich erscheinen; aber man sollte nicht außer Acht lassen, dass "Revolutionary Road" seinerzeit durchaus Vorbildcharakter für nachfolgende Autoren wie Richard Ford oder Raymond Carver hatte - ehe diese Schriftsteller mit ihren Mitteln darüber hinausgegangen sind und ehe deren Minimalismus und Lakonie zur Mode wurde. Yates hat mehr vorgelegt als nur eine unter vielen Abrechnungen mit dem Leben von Spießern: Man kann die Wheelers nicht wirklich mögen, aber man kann sie auch nicht eindeutig verurteilen. Sie stehen uns zu nahe. Richard Ford hat das in seinem Nachwort für die amerikanische Neuausgabe des Romans damit erklärt, dass dieses Buch zu einer Zeit erschienen ist, in der sich unsere heutigen Ansprüche an individuelle Freiheit auszuprägen beginnen - im Ansatz sogar schon für die Frauen - und dass genau dies auch das Thema ist.
Wenn Frank monologisiert und sogar wenn April abtreiben will, geht es immer, auch in den krudesten Überlegungen, um Selbstbestimmung, um Selbstverwirklichung. Überall wabert Therapeuten- und Psychojargon, Franks Reden wimmeln von halbverdauten Freud-Paraphrasen, die entweder dazu dienen, sich das Leben schön zu reden oder April zu verletzen - Psychoanalyse als billige Waffe im täglichen Ehekrieg, als Formelschatz zur flotten Rationalisierung, als Reparaturset. Über alles lässt sich in Ruhe diskutieren, heißt die Devise, und trotzdem eskaliert jedes Gespräch automatisch in unkontrollierten Emotionen. Kein Problem wird gelöst, nichts regelt sich - und niemand, auch nicht die weniger überspannten Nachbarn und Freunde können dem entrinnen. Das Leben nimmt Tag für Tag immer nur die banalste aller ungünstigen Wendungen, niemals reicht es zu einem großen Drama und noch nicht einmal zu großen Gefühlen.
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