Wozu Beruhigungsmittel, wenn eigentlich nichts passiert?

Raymond Queneau schweigt über den "Nutzen und Nachteil der Beruhigungsmittel"

Von Franziska FlachsbarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Flachsbarth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den zwölf zwischen 1922 und 1968 entstandenen Prosastücken geht es ruhig zu, eigentlich sogar langweilig. "Ein Auto kam vorbei, spritzte durch Pfützen. Noch eins. Aber eigentlich gab es nichts besonderes zu sehen, und die verlassene Straße weichte unter dem Blick des Betrachters auf." In dieser kinematographischen, den unscheinbaren Dingen zugewandten Sprache fällt ein trojanisches Pferd nicht sonderlich auf, auch wenn es nach drei Gin Fizz etwas betrunken wirkt.

Über konventionelle Beruhigungsmittel schweigt sich der Autor aus, und auch über Nutzen und Nachteil erfahren wir herzlich wenig. Der skandallüsterne Leser wird die Buchdeckel enttäuscht wieder zusammenklappen. Allerdings ließe sich Raymond Queneaus Prosabändchen verschreiben, um jemanden ruhig zu stellen.

Während surreale Elemente keiner Akzentuierung bedürfen, werden alltägliche Begebenheiten minutiös in einer Sprache festgehalten, die einen lakonischen Blick auf die Welt freigibt. Aus dieser Perspektive wandelt sich das Bekannte in etwas Neuartiges und entfacht im Leser eine Leidenschaft für das Beiläufige.

Queneau treibt ein Umkehrspiel mit den Konventionen. Wo das Konventionelle erklärungsbedürftig wird und das Unkonventionelle als geläufig dargestellt ist, gerät das Handwerk des Lesers durcheinander. Akzeptiert er das Auftreten eines ruhmsüchtigen Gespenstes, so bedarf die Behauptung, dass Gespenster keine Gespenster haben, keiner Infragestellung. Queneau zweifelt aber immer an dem, was nicht mehr hinterfragt wird. So entwickelt er paraphysikalische Traktate, die die Schwerkraft widerlegen, und setzt sich für eine aerodynamische Form mathematischer Gleichungen ein.

Was den Aufbau der Geschichten anbelangt, so rebelliert auch er gegen die Erwartungen des Lesers. Baut sich einmal Spannung auf, so irrt derjenige, der seine Aufmerksamkeit auf dieses Geschehen ausrichtet. Queneau löst keine Rätsel, er tut so, als hätte er gar keins gestellt.

Der Leser irrt genauso durch die Erzählungen wie die Protagonisten. Obgleich die Prosastücke nicht themenspezifisch ausgewählt wurden, findet sich in jedem Text das Motiv der Verlorenheit. Stobel irrt inmitten von Frauen in extravaganten oder fotogenen Badeanzügen vor phallischen Felsen umher, ein Gespenst irrt durch die Bibliothek auf der Suche nach ein wenig Ruhm, Queneau durch die zerbombten Straßen Le Havres. Die letzte Erzählung lässt den Leser noch einmal explizit durch frei kombinierbare Textteile irren. Obgleich erster interaktiver Text in der Literaturgeschichte, erscheint die "Erzählung nach Ihrem Geschmack" wie eine parodistische Kritik an der Banalität des Interaktiven.

Queneau tritt gern in Interaktion mit dem Leser. Auch hier durchbricht er die Konvention, als Autor unsichtbar zu bleiben. In "Frankreichs Kaffee" rechnet er mit den Vorurteilen ab, die über Autoren im Umlauf sind: "Es macht mich rasend, dass manche Leute glauben, ich würde dieses oder jenes tun, mir dieses oder jenes ansehen, um es hinterher zu einer Passage in einem Roman zu machen", in "Schicksal" wertet er seinen Protagonisten als recht durchsichtig und unscheinbar, seine Geschichte als naiv und vollkommen langweilig. Queneau schreibt seine Stücke nach seinen eigenen Kriterien und unterläuft bewusst Leseerwartungen: "Ob sie Euch gefällt oder nicht - mir ist es schnurz."

Er schafft es aber, dass uns seine Geschichten dennoch gefallen. Sie ziehen uns in den Bann, gerade, weil nichts geschieht. Die Zeit verstreicht, Radio Toulouse füllt den Nachmittag, und die sonst so akzentuierte Individualität verliert sich in den vielfältigen Rhythmen der Welt.

Die Übersetzung Hans Thills weist einige Mängel auf. So ist die abgewandelte Überschrift zwar reißerisch, aber nicht treffend, das Vorwort der Originalausgabe besser als das Nachwort, und weshalb einige Texte in der Übersetzung fehlen, ist nicht nachzuvollziehen.

Titelbild

Raymond Queneau: Vom Nutzen und Nachteil der Beruhigungsmittel.
Übersetzt aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung von Hans Thill.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002.
133 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-10: 3803131707

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