Wein, Dichtung und Wahrheit

Eine Laudatio auf Robert Gernhardt anläßlich der Verleihung des Rheingauer Literaturpreises am 27.10.2002 auf Schloss Vollrads

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei den rund 1.000 Gedichten, die Robert Gernhardt in rund vierzig Jahren bislang publiziert hat, käme man auf rund 750 Liter konsumierten Weines, wenn man der Rechnung die handelsübliche 0,75 l-Flasche zugrunde legte. Eine sehr maßvolle Größenordnung, für die 7.500 Euro Preisgeld auch nicht zu wenig angelegt wären, wobei nicht bekannt ist, ob und wieviele Flaschen für Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Glossen und Satiren, wieviele Flaschen schließlich für komische Zeichnungen, Cartoons, Comic-Strips, Bildergeschichten, Illustrationen undsoweiter benötigt werden oder wurden. Der Aufwand könnte höher sein: Denn zu dem eingangs erwähnten Gedicht muss man sich noch eine Illustration vorstellen, eine schlanke, gleichwohl schön geschwungene Flasche, die sich von der ersten zur letzten Zeile leert - die Literaturwissenschaft spricht in dem Fall von einem ikonischen Abbildungsverhältnis von Text und Bild:

"Flascherl Wein, Flascherl Wein
wirst gar bald geleeret sein
denn ich brauche pro Gedicht
Grad ein Flascherl und mehr nicht".

Gernhardts Gedicht kann das Verhältnis von Produktivität und Weinkonsum ziemlich präzise bestimmen und definiert den schöpferischen Augenblick als Moment von Maß und Vernunft. Zuviel wäre kontraproduktiv. Der weintrinkende Mensch kennt, darin dem Wasser nicht unähnlich, drei Aggregatzustände:

Nüchtern - heiter - angeheitert. Der Nüchternheit entspricht seine Normalität: Die Welt ist prosaisch, es entsteht allenfalls Prosa. Die Heiterkeit erst repräsentiert die Stunde des Dichters, des Geistes und der Produktivität. Der dritte Zustand ist der Produktivität bereits wieder abträglich, aber als Sujet ist er dem Dichter hochwillkommen:

Die Basis sprach zum Überbau:
"Du bist ja heut schon wieder blau!"
Da sprach der Überbau zur Basis:
"Was is?"

Entstanden sind diese Verse natürlich im Aggregatzustand zwo, der Heiterkeit und Inspiration. Nur die dargestellte Welt spricht auch vom Aggregatzustand drei, während die Sprechsituation eher von der Nüchternheit des philosophischen Diskurses kündet. Dichtung und Trunkenheit hingegen schließen sich aus, wie eines der Dichter-Dorlamm-Gedichte nahelegt: In diesem Gedicht will es Dorlamm nicht gelingen, sein Ringen auf den Punkt zu bringen. Drum lässt er am Ende "die Feder sinken, / pfeift aufs Schreiben und beginnt das Trinken."

Eine Entsprechung dazu, die "Klage" findet sich auch in den "Lichten Gedichten" von 1997:

"Ein Uhr und noch nichts geschafft
Zwei Uhr und noch nichts gerafft
Drei Uhr und noch nichts gemacht
Vier Uhr und noch nichts gedacht
Fünf Uhr und noch nichts getan -
Und um sechs fängt doch schon das Trinken an!"

Der Urheber solcher Verse hat sich eine lustorientierte, mittlerweile sehr große und ständig noch wachsende Fangemeinde erschlossen. Sein Werk ist Volksmund geworden, sein Wort Offenbarung:

Ich sprach: Wasser werde Wein!
Doch das Wasser ließ dies sein.
Ich sprach: Lahmer, du kannst gehn!
Doch er blieb auf Krücken stehn.
Da ward auch dem Dümmsten klar,
daß ich nicht der Heiland war.

Auf diese Weise geerdet hat der Autor seiner wachsenden Leserschaft eine Reihe herrlicher Alltagsgedichte geschenkt, die uns vorführen, wie wir heute leben, die unsere aktuelle Befindlichkeit auf den Punkt bringen, die uns Anlass zur Selbstbefragung geben, die uns schlechthin die Welt erklären. Seine Form der Transsubstantiation ist das Keltern des Wortes durch Wein in Dichtung:

Komm, erstes Wort,
langersehntes,
Geschenk du der Götter, die
den Dichter bedenken mit
herrlichen alten Weinen
wie dem von Castiglioncelli

und mit
herrlichen ersten Worten
wie
"Komm erstes Wort."

Diese Schöpfungssekunde im Gedicht ist übrigens ein schöner Beleg dafür, daß Gernhardt, dem in der Kritik fast zwanghaft der Reim als Attribut angedichtet wird, durchaus nicht immer reimt, dass er im Gegenteil überaus vielseitig ist und schon seit langem wahrhaft gewitzte und subtile Reimvermeidungsstrategien praktiziert, dass er überhaupt eine Fülle poetischer Mittel kennt und sie virtuos anwendet. Es fällt ihm nicht ein, stur beim Reimwort Wein beim Reim zu bleiben - als wolle er zeigen, was es alles gibt, nämlich bedeutend mehr komische Mittel als den Reim, und lieber baut er seine Verse so, dass wir auf "Weinen" keinen erwarten. Im übrigen ist Reim nicht gleich Reim, wie ein häufiges Reimpaar in seiner Lyrik beweist, das Reimpaar "Winken / Trinken":

"War das ein Jubeln, das ein Winken, ein Schwatzen, Scherzen, Juchzen, Trinken -".
Dieselbe Emphase ist "Schön, schöner, am schönsten" zu verspüren auch im berühmten Schampus-Gedicht dessen erste Strophe lautet:

"Schön ist es,
Champagner bis zum Anschlag zu trinken
und dabei den süßen Mädels zuzuwinken:
Das ist schön."

Hier spricht der Dichter von Ausgelassenheit und Lebensfreude im fast nicht mehr kontrollierten Übermaß. Das Reimpaar "Winken / Trinken" ist aber nicht dem glücklichen Augenblick vorbehalten, es kann auch Resignation umschreiben, wie Gernhardts Antwort auf das vielleicht bekannteste und beliebteste Gedicht der Deutschen, Hermann Hesses Gedicht "Stufen", belegt.

Die Jugendzeit mit ihren Ängsten:
Wer hat den längsten?
Die Reifezeit mit ihrem Wissen:
Kein Mann muß müssen.
Das Abendrot mit seinem Winken:
Eins läuft noch: Trinken.

Das Reimpaar, das eben noch die Lebenslust in Worte fassen half, erzählt jetzt von einem reduzierten Leben. Die dritte Variante, die Winken auf Trinken reimt, liefert eines jener Dichter-Dorlamm-Gedichte aus "Wörtersee", welches da heißt "Lokal-Bericht" und welches die Begegnung des Dichters Dorlamms mit Jesus dem Herrn schildert. Der eine bevorzugt Bier, der andere Wein, sie treffen sich in der Kneipe, wo sonst, und Jesus will vom anderen wissen, ob er Christ sei, was dieser verneint, "weil er's nicht ist. [...] bin's nie gewesen". Und dann heißt es weiter: Jesus

"Zieht ihn, um zugleich dem Wirt zu winken:
Dieser Herr will sicher auch was trinken!
Ja der Herr? Was darf es denn da sein?
Ich, sagte Dorlamm, möchte einen Wein.
Einen Wein? Der Wirt füllt den Pokal.
Na, sagt Jesus, Prost. Dann wolln wir mal!"

Das Reimpaar "Winken / Trinken" ist hier weder überschwänglich-lustbetont noch lebensüberdrüssig-trübsinnig semantisiert, wenn auch die ungewöhnliche Situation Gott den HErrn von einer sehr kommunikativen und lebensfrohen Seite zeigt.

Robert Gernhardt, der einen Teil des Jahres in Montaio, "am Rand des Chianti" lebt, ist dem Wein und den Genüssen von Herzen zugetan. Eines seiner Gedichte ist mit "Riesling" überschrieben, ein anderes mit "Geburtstag", und dort heißt es:

"Weißwein und Rotwein und Sekt und die Schwere
zahlloser Speisen bogen die Tische
an denen die Menge der tafelnden Gäste
sich's wohlsein ließ und die Helfenden schwitzten".
Das gute Leben aber hat auch ungeahnte, bisweilen unangenehme Folgen:
"Mein Körper hat es gut bei mir,
ich geb' ihm Brot und Wein.
Er kriegt von beidem nie genug,
und nachher muß er spein."

Derlei Erfahrungen müssten eigentlich zur Abstinenz führen, wie es das "Nichttrinklied", zumindest dem Titel nach, nahelegt:

"Das Schicksal hat es so gefügt,
daß mir am Alkohol nichts liegt.
Mich lockt nicht Bier, nicht Gin, nicht Wein -
Na ja, ein Wein, der darf schon sein.
Mich lockt nicht Korn, nicht Bier, nicht Gin -
Ist da ein Gin? Dann immer rin!
Mich lockt nicht Wein, nicht Korn, nicht Bier -
Da kommt ein Bier? Das nehmen wir!
Mich lockt nicht Gin, nicht Wein, nicht Korn - Her mit dem Korn! Und dann von vorn:
Das Schicksal hat es so gefügt,
daß mir am Alkohol nichts liegt etc."

Am Schluss hat der Sprecher alle Alkoholika durchgespielt, in wechselnden Abfolgen, die Kopflust und Kopfschmerzen bereiten dürften, wenn man sie denn befolgte. Zu dieser 'reinen Komik', die uns der Autor formal-inhaltlich immer wieder einschenkt, treten die verhalteneren Töne, die am anderen Ende des Registers stehen, wie zum Beispiel in dem bereits erwähnten "Riesling"-Gedicht. Hier bringt der italienische Schlafwagenkellner dem deutschen Gast eine eisgekühlte Flasche, "Il Riesling" eben; kontrastierend dazu wäre jene Gottfried-Benn-Phantasie im "ICE Kassel-Fulda" zu nennen, dort bestellt der Gast beim hessischen Kellner einen "Weißwein vom Gardasee". Der Wein ist in beiden Gedichten ein Sehnsuchtsbild, eine Metapher für Fernweh einerseits, Heimweh andererseits, ein Gesang vom Wein, ohne weinerlich zu sein.

Man sollte nicht enden, ohne auf die wunderbaren Landschaftsbilder des Weindichters Gernhardt hinzuweisen, wie sie in konzentrierter Form in "Würstchen im Schlafrock" vorliegen, einem Zyklus im Goethe-Sound, der als zweiten Titel die Überschrift "September mit Goethe" trägt. Goethe hatte bekanntlich hohe Weinrechnungen, noch höher war sein Konsum, er war in vielem groß, und seine Wirkung ist es bis heute, nicht zuletzt deshalb, weil er große Dichtung immer noch auslöst. Gernhardts Goethezyklus gehört zweifellos dazu. Hier steht der Sänger "Vor dem Weinfeld", vor den "Grünspalierte[n] blauen Trauben", deren Schicksal es ist zu sterben, um als Wein aufzuerstehen. Des "Dichters reiner Mund" singt hier vom Wein, dem roten, da wird alle Süße aufgeboten, "pralle Reben" sprechen von / guter Ernte auf dem Helikon - sowie dem "abendlichen Chiantikamm".

Bereits in "Wörtersee" (1981) hat Gernhardt einen solch goldenen Septembertag besungen:

"Nun ist der Wein bereits am Sichverfärben.
Die ersten Blätter lappen leicht ins Gelbe.
Die Sonne hält voll drauf. Exakt dieselbe,
die erst ihr Grünen sah, sieht nun ihr Sterben."

Soweit bis hier zitiert. Der Dichter malt mit Worten, die Natur mit Farben:

"Rot ist der Wein aus Grimoli", heißt es in "Wörtersee",
"rot glänzt das Dorf im Tale,
rot wird mein Liebchen, wenn ich sie
mit Kadmium bemale."

Viele weitere Texte in vielen weiteren Formen und Variationen ließen sich hier anfügen, darunter ein Rätselgedicht:

"Ich blick' nach oben und seh' Wein.
Ich blick' nach unten und seh' Stein.
Der Wein hängt hoch, der Stein liegt nah,
des Rätsels Lösung: Pergola."

In vino veritas - im Wein liegt Wahrheit, liegt Dichtung, und niemand hat virtuoser vom Verhältnis von Wein und Dichtung und Wahrheit gesprochen als der hier zu Feiernde. Robert Gernhardt sollte eigentlich dauernd auf Schloß Vollrads zu Gast sein, um als Botschafter des Weins und der Dichtung vor so illustrer Runde und so dankbarem Publico zu sprechen. Die 111 Flaschen Rheingau-Weins, die mit dem Literaturpreis verbunden sind, dürfen - direkt oder indirekt - als Aufforderung gelesen werden, weitere Gedichte zu schreiben und die Botschaft des Weins und der Wahrheit zu verkünden. Sinnvoller kann ein Preis an einen Dichter, der den Wein liebt, nicht vergeben werden.

Titelbild

Robert Gernhardt: Gedichte 1954-1994.
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Zürich 1996.
538 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3251003313

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Titelbild

Robert Gernhardt: Klappaltar. Drei Hommagen.
Diana Verlag, Zürich 2000.
96 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-10: 3453172094

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Titelbild

Robert Gernhardt: Lichte Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
272 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3596141087

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Titelbild

Robert Gernhardt: Im Glück und anderswo. Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100255038

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Titelbild

Robert Gernhardt: Meer von Robert Gernhardt. Geschichten vom Meer.
Herausgegeben von Denis Scheck.
MareBibliothek Bd. 4.
Mare Verlag, Hamburg 2002.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3936384037

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