Obsession, straßenabgewandt

"Es gibt solche", wenn man es glaubt - das beachtliche Debüt von Nina Jäckle

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht würde man glauben, dass ein alter Nachbar so verrückt sein kann, seine Hälfte eines gemeinsamen Baumes zu fällen; vielleicht auch, dass ein Verlassener so verzweifelt auf seine Freundin wartet, dass er, als sie weiterhin ausbleibt, in die Wohnung seiner Nachbarin eindringt und ihr ein Essen mit Wein und Nachtisch kocht; vielleicht glaubt man sogar, dass ein Mann sich mit Erblindenden anfreundet, um diese dann unbemerkt zu verfolgen und zu fotografieren; vielleicht ist man auch bereit zu glauben, dass eine U-Bahn kein Notstromaggregat hat, so dass bei Stromausfall tiefste Finsternis im Waggon herrscht; und vielleicht sogar noch, dass eine Frau so besessen von ihre Freundin ist, dass sie diese bis ins wirklich allerkleinste Detail imitiert. Vielleicht sind wir bereit, das alles zu glauben. Vielleicht aber auch nicht.

Was wirft man einer Autorin vor, wenn man sagt, ihre Geschichten oder Aspekte derselben seien unrealistisch? Eine schwierige Frage, je länger man darüber nachdenkt. Man will ausdrücken, dass ein Verhältnis innerhalb einer Geschichte nicht stimmig ist, denn sicherlich ist schon von viel Bizarrerem und Abseitigerem erzählt worden. Und man will ja auch das Außergewöhnliche, gar Fanstastische erfahren, zumindest den außergewöhnlichen Blick auf das Bekannte. "Unrealistisch" will ausdrücken, dass man als Leser aussteigt, nicht mehr mit der Geschichte mitgeht, dass sich die Geschichte entfernt, man sich von ihr ausgeschlossen fühlt.

Jäckles Erzählungen fordern dem Leser, der nicht ausgeschlossen sein will, einiges ab. Meist muss man einen sperrigen, spröden Einstieg in die Geschichten hinnehmen - erst nach und nach gewinnen die Situationen der Helden Kontur, aber auch das nur bis zu einem gewissen Grad - und dann wird man auf Distanz gehalten: Knapp und eigenwillig gestaltet Jäckle ihre Handlung. Ein Kompliment, solange man gepackt ist und mit Lust weitere Anstrengung investiert (das macht Lesen aus); aber Kritik, wenn sich hinter gewollten, gleichsam minimalistischen und verklausulierten Beschreibungen die erzählte Wirklichkeit im Unerkenntlichen verliert.

Diese distanziert-entrückte Erzählperspektive entspricht exakt der Situation, in der sich Jäckles Helden befinden (was wiederum ein Kompliment bedeutet). Einzelne, denen die Welt entgleitet oder die sich selbst in Einzelnem verlieren. Eine muss unabänderlich dem Verlöschen ihres Augenlichts beiwohnen. Einer verlässt seine Wohnung nicht mehr und nimmt nur mehr horchend die Welt hinter den Wänden wahr. Wiederum eine hat "vergessen was Abwesenheit ist", hat sich selbst soweit vergessen, dass sie nur noch eine andere sein kann - "Es gibt solche": Seelischverwundete, Traumatisierte, die mit eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit besessen, um Annäherung, um einen Bezug zu anderen kämpfen, indem sie: ablichten, aushorchen, nachstellen, beschatten, aufsaugen, kopieren. Aber sie werden die Zweifel nicht los: "vielleicht verschweigt jeder Mensch dem anderen seine Welt, vielleicht haben wir alle uns auf banale Dinge geeinigt, einzig um für die anderen nicht die Irre zu sein, die man ist."

Die geschlossenen Lebenssysteme von "gestörter Räumlichkeit und Kummer", die bisher ihre eigene Ordnung hatten - neurotisch, ästhetisierend, hypersensibel, "straßenabgewandt" -, werden erschüttert und müssen neu organisiert werden. In vier der fünf Geschichten braucht es den Prozess von der Verstörung bis zur Überwindung des Kummers allein zum Loslassen und zur Trennung. Nur in einer eröffnet der letzte Satz die Möglichkeit eines begegnenden mitmenschlichen Blicks.

Jäckle wagt viel mit ihrer Eigenwilligkeit und gewinnt nicht alles. Sie kämpft um die strenge, schlüssige Form und verliert so bisweilen den Handlungsfluss, wird ihren Szenarien zugunsten einer Poetisierung nicht mehr gerecht wird, die das verstellt, was sie auf die Spitze treiben müsste.

Das mag mäkelig klingen, aber Jäckle selbst legt die Messlatte so hoch, weil sie nicht mit dem Leser buhlt. Wo sie es doch tut, wie in der "Buchenhofstaffel", die beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb zurecht einen Verriss wegen niedlicher "Artigkeit" erhielt, verliert sie das, was ihre Texte ausmacht: die Konzentration und die Obsession, die dann unvermittelt durchbrechen, wenn Jäckle nicht ausweicht, nicht ins Formale und nicht ins Putzige - dann wird es in den Geschichten so eindringlich, ehrlich und auch anrührend, dass man ahnt, was dieses beachtliche Debüt noch hätte sein können.

Titelbild

Nina Jäckle: Es gibt solche. Erzählungen.
Berlin Verlag, Berlin 2002.
134 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3827004845

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