Naturrecht, Selbstliebe und Geselligkeit

Friedrich Vollhardts Untersuchung zu den Voraussetzungen der Empfindsamkeit

Von Dietmar TillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Till

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach den denkgeschichtlichen Voraussetzungen, den Ursprüngen und Traditionslinien, in denen die literarische Strömung der ,Empfindsamkeit' im 18. Jahrhundert steht, beschäftigt die Literaturwissenschaft schon seit langem. Die intensive Forschung hat allerdings nicht dazu geführt, dass sich auch ein Konsens in dieser Frage herausgebildet hätte. Noch immer konkurrieren ideengeschichtliche und theologiegeschichtliche Erklärungsansätze (etwa die jüngst wieder diskutierte These vom engen Zusammenhang von ,Empfindsamkeit' und ,Pietismus'); auch auf die sozialhistorische Frage nach dem Verhältnis von ,Empfindsamkeit' und dem aufsteigenden 'Bürgertum' konnte die Forschung keine abschließende Antwort geben. An diesen Problemkomplexen setzt Vollhardts Studie an, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens trägt sie dem theoretischen Wandel einer Literaturwissenschaft ,nach der Sozialgeschichte' Rechnung und bezieht neuere wissenssoziologische und systemtheoretische Ansätze (Niklas Luhmann) in den Argumentationsgang der Arbeit ein - und stellt sie zugleich auf die Probe, indem sie deren abstrakte Thesenbildung an den Quellen überprüft. Zweitens verlagert die Untersuchung die Frage nach der ,Vorgeschichte' empfindsamer Moralvorstellungen weit ins 17. Jahrhundert zurück und zeigt in einem komplexen Argumentationsgang, wie die Autoren der ,Empfindsamkeit' immer wieder auf Denkschemata zurückgreifen, die in den naturrechtlichen Diskussionen des 17. Jahrhundert um das Verhältnis von ,Selbstliebe' und ,Geselligkeit' geprägt worden waren. "Die naturrechtliche Pflichtenlehre ist in ihrem Aufbau, in der Verknüpfung von Individual- und Sozialmoral und in der Verhältnisbestimmung von Rechts- und Liebespflichten für die Schriftsteller der Jahrhundertmitte wenn nicht das Vorbild, so doch der Rahmen, in welchem sie über die ,vornehmste' Aufgabe der Dichtkunst, die Förderung des Sittlich-Guten, nachgedacht haben."

Der in den Literaturgeschichten gerne betonte ,Bruch' zwischen dem ,höfischen Barock' und der ,bürgerlichen Aufklärung' mit ihren Bildern "sanfter Menschenliebe, geselliger Übereinkunft und tugendhaften Gefühls" wird dabei mit Blick auf die Kontinuität naturrechtlicher Argumentationsformen bis weit in die Spätaufklärung hinein in Frage gestellt. Die höfische ,Privatklugheit' und die ,Gesellschaftsethik' sind im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert tiefgreifenden Transformationsprozessen ausgesetzt, die in der Forschung den Blick auf das Fortwirken naturrechtlicher Deutungsansätze verstellt haben; die Gesellschaftsethik einer tugendhaften 'Empfindsamkeit' erscheint nicht länger als Gegenbild zu den kalt-berechnenden Verhaltenslehren aus dem Kontext des höfischen ,Machiavellismus': "Unter dem Begriff ,Empfindsamkeit' ist dann nicht mehr ein wie immer gearteter Zeitstil oder Epochentitel zu verstehen. Nicht einseitig festgelegt, fasst er jene Formen der literarischen Kommunikation und der mit ihr verbundenen Theoriebildung zusammen, die Traditionsbestandteile einer frühmodernen Sozialethik aufnehmen und in neuer Weise ausformulieren. Die positive Naturanlage des Menschen - seine Fähigkeit zum sympathetischen Fühlen - wird den rationalen Normen des sozialen Handelns beigeordnet und so zu einem Argument erhoben, dessen Lehrgehalt sich vorzüglich in literarischen Schilderungen ,prüfen' und bestätigen ließ."

Vollhardt arbeitet diesen verschütteten, bislang weitgehend übersehenen Deutungszusammenhang in seiner Studie heraus: ",Selbstliebe' und ,Geselligkeit'? Die Selbstverständlichkeit, mit der das 18. Jahrhundert eine gedankliche Verbindung zwischen diesen dem ersten Anschein nach inkommensurablen Formen des Verhaltens geknüpft hat, ist verlorengegangen." Als zentral erweist sich dabei die Naturrechtstheorie des 17. Jahrhunderts, vor allem die einflussreichen Schriften Samuel Pufendorfs, der sein System auf dem Grundsatz der "Verpflichtung des Menschen zur Sozialität" errichtet. Die ,Liebe' zu Gott, die ,Selbstliebe' und das ,gesellige' Verhalten innerhalb der Gesellschaft sind die drei Eckpfeiler einer gegen Hobbes' negative Anthropologie eines Krieges ,aller gegen alle' gerichteten naturrechtlichen Theorie, wie sie Christian Thomasius und die Philosophen und Rechtstheoretiker der deutschen Frühaufklärung weiter ausformulieren. Für die ,Empfindsamkeit' des 18. Jahrhunderts, deren Autoren diese naturrechtlichen Deutungsschemata rezipieren, sollte dann der Ausgleich zwischen "Individualität" und "Sozialität" zentral werden: "Leitmotivisch durchzieht der Grundgedanke der vernünftigen Selbstliebe die Moralischen Wochenschriften und die an sie anknüpfenden Gattungen der didaktischen Literatur bis hin zu der empfindsamen Theoriebildung, in der die den Altruismus übergreifende ,Anthropologie der Selbstreferenz' (Luhmann) so irritierend gewirkt hat, obwohl sie den Übergang zu einer funktional differenzierten, öffentliche und private Lebensbereiche trennenden Gesellschaftsformation deutlicher anzeigt als der in den Vordergrund geschobene Humanitätsbegriff."

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Ein erster Teil bietet einen konzisen Abriss der Thesen der Arbeit; er sei allen Lesern empfohlen, die sich auf 50 Seiten über die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung, ihr theoretisches Umfeld und auch den methodischen Neuansatz informieren wollen. Die beiden weiteren, systematisch aufeinander bezogenen Teile arbeiten mit der nötigen historischen Tiefenschärfe aus, was im Einleitungsteil nur knapp resümiert werden konnte: Der umfangreiche zweite Hauptteil untersucht die ,Elemente der naturrechtlichen Theoriebildung', primär im Kontext der zeitgenössischen Theologie, Philosophie und Rechtstheorie. Wichtig ist hier das Kapitel zur ,anthropologischen Begründung' des profanen Naturrechts bei Pufendorf. Es diskutiert die drei zentralen Ansatzpunkte der Naturrechtslehre: Die imbecillitas, die Lehre von der angeborenen Schwäche und Sündhaftigkeit des Menschen im Kontext einer christlichen Anthropologie (Pufendorf ersetzt sie durch eine profane ,Sozialisationstheorie', die von der Vorstellung eines ursprünglich positiv-,geselligen' Naturstandes ausgeht); die socialitas, die dem Menschen natürliche ,Geselligkeit' (vergleichbar mit der christlichen Nächstenliebe); schließlich die conservatio sui, das Selbsterhaltungsstreben und die ,Selbstliebe' des Menschen, die mit der ,Geselligkeit' immer wieder in Einklang zu bringen ist - nicht zuletzt hieraus erklärt Vollhardt die Konjunktur des verhaltensethischen Schrifttums und der Moralistik um 1700. Diese Grundsätze lieferten insgesamt den Entwurf einer anthropologisch gegründeten und von der christlichen Offenbarung unabhängigen Moral- und Handlungstheorie. In Jacques Abbadies "L'Art de se connoître soi-même" (1692) - für Vollhardt ein Zentraltext - steht das Problem der Vermittlung "von natürlichem Glücksstreben und Gemeinwohl" im Mittelpunkt; dessen terminologische Differenzierung eines amour propre und eines amour de nous-même sollte bis hin zu Rousseau Schule machen. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit dem Wechselverhältnis des profanen Naturrechts und der praktischen Theologie (am Beispiel von Christian Weise und - vor allem - Christian Thomasius, dem Vollhardt ein wichtiges und umfangreiches Kapitel widmet), mit Affekten- und Verhaltenslehren im Kontext der Frühaufklärung. Vollhardt arbeitet hier die äußerst vielfältigen Theorieströmungen auf, wobei ihm Luhmanns "Theorie des Kulturwandels" als Rahmen dient. Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme und, damit verbunden, die Umstellung von einer stratifikatorischen zu einer funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung führte demnach im 18. Jahrhundert zu einer Veränderung der "Interaktionssemantik" (Luhmann), die sich in einer Hinwendung zum "Selbstwert der Sozialität" zeigt. Vollhardts Ausführungen zeigen hier, wie sich die von den Quellen abstrahierende Wissenssoziologie Luhmanns mit einer literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis verbinden läßt, die keine "elementaren philologische[n] Regeln" verletzt.

Der dritte Hauptteil ,Naturrechtliche Anthropologie und Sittenlehre in den Gattungen der aufklärerisch-didaktischen und tugendempfindsamen Literatur' wird von der These geleitet, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts die im Naturrecht angelegten Moralvorstellungen sich als nicht mehr "philosophiefähig und philosophiewürdig" erweisen; die Gesellschaftsethik, die bei Thomasius zentraler Bestandteil der praktischen Philosophie war, wandert in die "Genres moralischer Literatur" ab: "Seit der Jahrhundertmitte hat die schöne Literatur - so steht zu vermuten - die fraglichen Inhalte nicht mehr nur poetisch eingekleidet, sondern durch ihre Darstellungsformen und emotiven Mittel die Aufgaben der sittlichen Erziehung ganz selbstverständlich übernommen und ohne gelehrtes Beiwerk begründet. Die Erfüllung der officia humanitatis wird lebendig vor Augen geführt." Dieser - im engeren Sinn - literaturwissenschaftliche Teil ist primär funktionsgeschichtlich angelegt. Er rückt drei Quellenbereiche ins Zentrum: die Moralischen Wochenschriften, das moralische Lehrgedicht und den moralischen Roman. Alle diese normvermittelnden Genres arbeiten sich in je spezifischer Weise an Fragestellungen ab, die für das Jahrhundert der Aufklärung insgesamt kennzeichnend sind: "Die Beförderung des allgemeinen Besten, die gemeine Wohlfahrt, die Glückseligkeit und ein geselliger Umgang, der auf Pflichten gründet, die das Individuum auch gegenüber sich selbst zu beobachten hat". Diese ethischen Leitvorstellungen gehen dabei auf Elemente der Naturrechtslehre zurück, die sich auch hier als "Fundamentalwissenschaft" versteht, die eine positive "Selbstbeschreibung" des Menschen jenseits "einer pessimistischen Deutung der verderbten Natur des Menschen, die von der religiösen Überlieferung festgeschrieben worden war" leistet. Das Naturrecht erweist sich damit als eine wesentliche Komponente im Streben der Aufklärung nach Autonomie und Säkularisierung, die Vollhardt aber nicht im traditionellen Sinne als "Ausdruck von ständespezifischen Interessen" deutet, sondern - wiederum im Kontext der Luhmannschen Wissenssoziologie - als "Zeichen einer beginnenden Umordnung der Gesellschaft."

Einen wichtigen Beitrag zu dieser "naturrechtlichen Modernisierung" leisten die Moralischen Wochenschriften; dort steht die Vermittlung von "Tugend" und "Wohlstand" (das honestum und das decorum aus der praktischen Philosophie des Thomasius) im Sinne eines "Erziehungsauftrag[s]" im Zentrum. Die Moralischen Wochenschriften realisieren ihre didaktische Intention darstellungstechnisch durch den Rückgriff auf vielfältige literarische Formen, inhaltlich durch Anknüpfung an die naturrechtliche Pflichtenlehre und die Trias aus "Selbstliebe, Geselligkeit und Glückseligkeit": "Die moralischen Erzählungen, Charakterschilderungen, Fabeln und Briefe fügten sich in den gesetzten Rahmen ein oder wurden in die bestehenden Begriffskonfigurationen regelrecht ,eingehängt'". Durch den Hinweis auf die zentrale gesellschaftspolitische Funktion der Wochenschriften weist Vollhardt zugleich überzeugend die von der älteren Forschung vertretende These vom ,unpolitischen' Charakter der Moralischen Wochenschriften zurück; die "Aufgabe der Erziehung und Aufklärung des Publikums mit Hilfe naturrechtlicher Normvorstellungen" wird im Gefolge der Trennung von ,Recht' und ,Moral' im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer mehr der ,Literatur' übertragen, die damit zu einem zentralen Organon der Identitätsbildung wird. Aus dieser Pflicht zur Geselligkeit lassen sich empfindsame Formen wie der ,Freundschaftskult' - als "Verknüpfung von Selbstliebe und Geselligkeit im Dienste der Freundschaft" - ableiten: "Die aus dem socialitas-Gedanken hervorgehende Topik der Empfindsamkeit stellt nur die emotionale Überformung von Konstanten dar, die die naturrechtliche Sozialethik vorstrukturiert hatte." Aus der naturrechtlich begründeten Affektenlehre des Thomasius ließ sich eine "Theorie der Empfindungen" - bei Georg Friedrich Meier etwa - ableiten; durch die Nachahmung von Empfindungen im Medium der Kunst tragen Werke der ,schönen Literatur' zu einer Habitualisierung von tugendhaften Verhaltensweisen bei; auch das für die Empfindsamkeit charakteristische Streben nach Ausgleich von ,Kopf' ("Ratio") und ,Herz' ("Sinnlichkeit") lässt sich auf Diskussionen um die Selbstliebe im Kontext von Naturrechts-Debatten zurückführen.

Ähnliches untersucht Vollhardt am Beispiel des ,moralischen Lehrgedichts'. Die Formen didaktischer Poesie dienten nicht nur der Verbreitung naturrechtlichen Wissens; die Gattung unterlag vielmehr schon früh einer Tendenz zur ,Autonomisierung', die sich in der Abkehr von einer einfachen Vermittlung von Lehrinhalten und der Hinwendung zu einer "Vorstellung der Erzeugung von Wahrheit durch die poetische Ausführung" zeigt. In diesen Kontext könnte man sicherlich auch weitere Genres mit heteronomer Funktionsbestimmung, etwa die Fabel, stellen. Zugleich zeigen sich in der Lehrdichtung Formen einer profanen Begründung von Tugend, die alleine aus der Vernunft und der menschlichen Anthropologie abgeleitet werden; den legitimierenden Diskurs stellten wiederum naturrechtliche Deutungsmuster bereit, die sich hier geradezu als Motor des Aufklärungs-Prozesses erweisen.

Auch in den moralischen Romanen Wielands ("Dialoge des Diogenes von Sinope", 1770) und Sophie von La Roches ("Geschichte des Fräuleins von Sternheim", 1771) schließlich bildet das "gesellschaftliche Handeln" der Menschen ein grundlegendes Thema. Im "Fräulein von Sternheim" wird der naturrechtliche Zusammenhang von "Normerkenntnis, praktischem Handeln und persönlichem Glück" narrativ präsentiert - der Roman, so Vollhardts These, liefert dabei keine abstrakten Verhaltensregeln, "sondern wird selbst zu einer Verhaltenslehre", die zwischen der abstrakten Regel - der ,Selbstliebe' als oberstem Handlungsregulativ - und ihrer von der Einzelsituation abhängigen Applikation eine (nicht immer unproblematische) Vermittlung sucht. Vollhardt deutet den Zusammenhang von gesellschaftlicher Moralität und individuellem Handeln als durchgängige ,Problemstellung' der Literatur der Spätaufklärung. Der Protagonist in Wielands "Diogenes von Sinope" ist deshalb nicht zufällig derjenige kynische Philosoph, der in der Aufklärung zur "Karikatur des Außenseiters, der Sitten und Menschen verachtet" geworden war. In seiner Figur ließen sich die Problematik der ,Moralität' von Handlungen jenseits eines gesetzlich kodifizierten Rechtskataloges - die "Gesetze des Wohlstands" - narrativ aufzeigen. Die Humanitätsideen der Spätaufklärung - in Wielands Worten: die "Forderungen der Menschlichkeit" - arbeiten sich deshalb immer noch an den Problemlagen der Naturrechtslehre ab, allerdings nicht mehr im Medium und mit den argumentativen Mitteln des philosophischen Traktats - sondern in der ,schönen' Literatur.

Vollhardts anspruchsvolles, aber zugleich spannend und engagiert geschriebenes Buch ist ein gewichtiger Beitrag zur Erforschung der komplexen Beziehungen zwischen ,Philosophie' und ,Literatur' im 17. und 18. Jahrhundert. Es arbeitet die verschüttete Tradition der Naturrechtslehre auf, zeigt deren zentrale Stellung im zeitgenössischen Wissen und ihre ,Wirkung' auf die Literatur, die weit über eine thematische oder motivische Perspektive hinausgeht. Im Gegenteil: Vollhardt zeigt eindrücklich, wie die Literatur im 18. Jahrhundert immer mehr auch Aufgaben aus dem Bereich der praktischen Philosophie übernimmt und dadurch an Autonomie und Dignität gewinnt. Indem die Untersuchung anschaulich vorführt, wie in den literarischen Werken der Zeit die naturrechtlichen Positionen aufgenommen und weitergedacht werden, eröffnet die Arbeit zugleich vielfältige Anschlußmöglichkeiten für die künftige Forschung.

Titelbild

Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2001.
393 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3484630264

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