Lesen Sie gefälligst!
Peter Handke zum 60. Geburtstag
Von Klaus Kastberger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseManchmal denke ich mit Wehmut an mein Germanistikstudium zurück. In einer der ersten Proseminarstunden erklärte uns ein Dozent den Unterschied zwischen Thomas Bernhard und Peter Handke. Was mich faszinierte, war die Selbstverständlichkeit, mit der dies geschah. Thomas Bernhard, so meinte der Dozent, werde es wohl nie in den Kanon schaffen, weil er in seinen Büchern immer nur das gleiche machte. Peter Handke hingegen habe sich dem Prinzip der literarischen Innovation verschrieben. Ein Platz im Olymp der deutschsprachigen, wenn nicht gar der Weltliteratur sei ihm gewiss. In Literaturgeschichten, Schullesebüchern und im akademischen Unterricht werde man den Mann dereinst feiern.
20 Jahre später ist klar, dass der Dozent von damals flächendeckend Unrecht behalten hat, und zwar nicht so sehr, was sein Urteil über die beiden Autoren, sondern vor allem, was seine Auffassung von Kanonisierung betrifft. Der Kanon wird heute (und er wurde natürlich auch schon damals) nicht im klinischen Umfeld akademischer Institutionen, sondern von Leuten gemacht, von denen man annimmt, dass sie weniger mit dem Machen dieses Kanons als vielmehr mit dessen Dauerverkörperung in der Öffentlichkeit beschäftigt sind. Leuten, die selbst mediale Images sind, geht es naturgemäß nicht nicht um die Texte von Autoren (oder gar um die Frage, ob diese Texte nun sonderlich innovativ seien oder nicht), sondern um die Vermittlung medialer Images von diesen Autoren.
Das Image von Peter Handke, an dessen Zustandekommen der Autor selbst nicht unbeteiligt ist, das er aber auch nicht allein zu verantworten hat, fällt heute sinnigerweise exakt mit jenem Vorwurf zusammen, den der Dozent damals den Texten des vermeintlichen Berhard-Antipoden gemacht hat. Spätestens seit dem Jugoslawien-Krieg ist es das ewig Gleiche, das man von Handke hört: eine Politik-Schelte, die von der Politik weitgehend ignoriert wird, und eine Medienschelte, die von den Medien begierig aufgegriffen und ein fürs andere Mal reproduziert, kommentiert und gegenkommentiert wird. Beim jüngsten Anlassfall war es nicht anders: Die "Süddeutsche Zeitung" kündigte Handkes Bericht über den Milosevic-Prozeß erst groß an und rückte schon einen Tag nach dem Abdruck des 16seitigen Textes (am 4. Oktober des Jahres) eine Verteidigung desselben durch Timothy Garton Ash ins Blatt. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die von Peter Handke (nicht in diesem Artikel, aber schon lange vorher und dabei aufs gröbste) der Kriegs-Hetze gegen Serbien bezichtigt wurde, empörte sich wie gewöhnlich. Die "Zeit" mimte - ebenfalls nicht wirklich überraschend - den Part des objektiven Dritten; in seiner Analyse legte Jens Jessen die Motive für die Verteidigung von Milosevic durch Handke frei, seiner Ansicht nach steht hinter dem ganzen eine Gesamtanklage der europäischen Moderne.
Wahrscheinlich versteht man den späten Handke besser, wenn man sich den frühen anschaut. Nützlich ist in dieser Hinsicht eine Biographie von Georg Pichler, die gerade rechtzeitig vor dem 60. Geburtstag des Autors (am 6. Dezember) erschienen ist. Eine Geschichte, die sich dort nicht findet, ist symptomatisch: Auf einer Lesereise durch US-amerikanische Universitäten soll der junge Handke weniger durch seine Texte, sondern durch seine Aktionen aufgefallen sein. Vor den Studenten zeigte er zunächst eine Fahne des Vietkong vor, was zu anhaltendem Jubel führte. Nachdem dieser abgeklungen war, zeigte er die Flagge der USA, laute Missfallensbekundungen waren die Folge. Schließlich kramte der Dichter eine Phantasie-Fahne hervor, bunt und ohne die Möglichkeit einer politischen Zuordnung. Daraufhin wussten die Studenten nicht, wie sie reagieren sollten.
Gegen die Verfestigung des Formelhaften in der Literatur und in der Gesellschaft ist der junge Rebell in den 60er Jahren aufgetreten. Bis heute ist nicht klar, ob Handke diese Rolle durch die äußeren Umstände zufiel, oder ob er sie mit Kalkül angestrebt hat. Das entscheidende Ereignis war sein Auftritt bei einer Lesung der Gruppe 47, die 1966 in Princeton stattfand: In einem Statement warf der junge Dichter - innerlich davon gestärkt, dass bei Suhrkamp soeben sein erster Roman ("Die Hornissen") erschienen war - der versammelten literarischen Prominenz "Beschreibungsimpotenz" vor. In dem transkribierten Tonbandmitschnitt, den Georg Pichler in seinem Buch ausführlich zitiert, wird klar, wie aufgeregt der junge Mann gewesen ist. Außerdem werden Details sichtbar, die für das Schreiben Handkes bis heute Relevanz besitzen. Beispielsweise die Klage darüber, dass in der deutschsprachigen Literatur "hinter jeder Rose irgendwie auch Auschwitz auftauchen" müsse. Dreißig Jahre später setzt Handke in seinem Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht" eine Art Gegenprogramm um. Nachdem über Europa ein allgemeiner Bürgerkrieg gezogen ist, könne man nun endlich wieder die "Äpfel aus deutschen Landen" als das beschreiben, was sie sind, nämlich "Äpfel aus deutschen Landen". Die Dinge bekommen in der Beschreibung ihre Unschuld zurück, von Teilen der Kritik wurde dieses literarische Programm als ein schlichtweg revisionistisches gelesen.
Noch einmal zurück in die 60er Jahre: Nach dem Skandal von Princeton war Handke plötzlich berühmt. Die Journalisten vor Ort wollten nur noch mit ihm sprechen und auch der Spiegel berichtete groß über den jungen Wilden. Handke schrieb an das Magzin einen rührenden Leserbrief: "Schon von klein auf ist es mein Wunsch gewesen, in Ihrem Magazin zu erscheinen." Mit seiner "Publikumsbeschimpfung" wurde Handke noch im selben Jahr zum Theaterstar. Viele hatten das Stück, in dem eine Gruppe von Schauspielern starr auf der Bühne steht und nichts anderes tut, als den Titel umzusetzen, für unspielbar (oder zumindest nur einmal spielbar) gehalten. Vom gigantischen Erfolg der Aufführungen wurden sie eines besseren belehrt, offensichtlich war man auch auf dem Theater in eine neue Phase medialer Wirksamkeit getreten.
Mit dem Buch "Wunschloses Unglück" (1972) landete Handke seinen größten Verkaufserfolg. Teile der Kritik sprachen spöttisch vom "neuesten Fall deutscher Innerlichkeit", darauf allein lässt sich der Roman aber nicht reduzieren. Die Abgrenzung von der Fertigteil-Literatur und die Verpflichtung auf literarische Innovation, auf die sich Handke in seinen frühen programmatischen Schriften (versammelt in dem immer noch lesenswerten Band "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms") eingeschworen hat, wurde jetzt auf einen neuen Gegenstand angewandt, nämlich auf die Biographie der eigenen Mutter. Schrittweise sollten alle möglichen Sätze zur Beschreibung einer solchen Lebensgeschichte mit der tatsächlichen Lebensgeschichte verglichen werden. Das Schreibmodell blieb das alte: Der Autor spaltet die Wirklichkeit in zwei Teile und bringt diese miteinander in Korrelation - die unmittelbar erfahrbare Realität auf der einen Seite und die Vermittlung dieser Realität in den standardisierten Formen der Literatur auf der anderen.
Der eigentliche Bruch in Handkes Schreiben ereignet sich mit dem Roman "Langsame Heimkehr" (1979). Die schnellen Beats der frühen Jahren waren vergessen, zusehends breitete sich Langsamkeit aus. "Das Ende des Flanierens" hieß ein früherer Text, ab Anfang der 80er Jahre fängt der Autor wieder ganz bewusst zu flanieren an. Was er auf seinen Spaziergängen sieht, gerät in einen immer schärfer werdenden Gegensatz zu dem, was darüber berichtet wird. Nicht mehr die Fertigteilformen der Literatur, sondern die massenmedialen Vermittlung von Wirklichkeit gerät ins Blickfeld und wird zum Ärgernis. Je langsamer Handke in seinen Schriften wird, desto mehr fällt ihm der Unterschied auf und desto aggressiver werden seine Polemiken gegen die Medien.
In den Reisebeschreibungen aus Jugoslawien eskaliert der Konflikt. Was Handke vor Ort sieht, hat nichts mit dem zu tun, was die Medien berichten. Die literarische Beschreibung wird zu einer Notwehraktion gegen die politische Propaganda und deren mediale Vermittlung. Viel zu früh habe man in der restlichen Welt und vor allem in Österreich die Eigenstaatlichkeit Sloweniens anerkannt und damit wesentlich zum Zerfall Jugoslawiens beigetragen. Anfang der 90er Jahre reist Handke nach Slowenien und nimmt in sentimentaler Weise von seinem "Neunten Land" Abschied, von einem Slowenien, das für ihn untrennbar mit Jugoslawien verbunden war, auch wenn sich seinen Kultur teilweise auf Kärntner Boden befinden mag. Mit der slowenischen Kultur ist Handke aufgewachsen, auf die slowenische Literatur hat er unablässig hingewiesen. Zuletzt in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats durch die Universität Klagenfurt: "Ich bitte Sie zu lesen, nein ich bitte gar nichts.. Lesen Sie gefälligst!"
Mitte der 90er Jahre fährt Handke nach Serbien und beschreibt Gegenden, in deren Nähe knapp vorher der Krieg gewütet hat, als Landschaftsidyllen. Der Aufschrei in den Medien ist gewaltig, man will solche Beschreibungen nicht zulassen. Die Unschuld der Gegend ist ein Skandal, man will Leichen und Opfer sehen. Wie ein solches Bild aussehen könnte, erweist die österreichische Literatur wenig später. Josef Haslingers Buch "Das Vaterspiel" bietet Leichentorsi vor einem bukolischem Hintergrund. Seltsamerweise hat darin niemand einen Skandal gesehen, obwohl die Unschuld der Landschaft und das spekulative Tun des Autors hier umso stärker ins Gewicht fallen.
Zurück zu Handke, zurück zu den Medien. Der Gegensatz hat sich zugespitzt und reicht bis in die sprachliche Struktur. In dem Prozessbericht aus Den Haag findet sich der schöne Satz: "Ob nicht der Zwang zu kurzen und kürzeren Sätzen, allgemein geworden, es ist, welcher den Augen- oder Wahrschein, nicht bloß behindert, ihn vielmehr kurz und klein schlägt?" Die langen Sätze des Peter Handke und die kurzen Sätze der Medien brauchen einander und vielleicht geben sie sich gerade dort, wo sie nichts voneinander wissen wollen, gegenseitig auch schon wieder ein klein bisschen recht.
Ein kurzer Nachsatz: Peter Handke hat ein Interview, um das ich mich wochenlang bemüht habe, abgelehnt. Aus dem Verlag hat es schließlich geheißen, dass Herr Handke keine Medienkontakte wünscht. Sofern er liest, soll er lesen, dass man ihm von hier aus alles Gute wünscht.