Fiktive Bruchstücke

Ein Sammelband über echte und eingebildete Opfer des Holocaust

Von Andrea ReiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Reiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist mittlerweile ziemlich still geworden um Binjamin Wilkomirski. Als der Schweizer Journalist und Autor Daniel Ganzfried 1998, drei Jahre nach Erscheinen von "Bruchstücke", einem Holocaust - Memoir, das angeblich die Odyssee eines kleinen polnischen Jungen durch mehrere Konzentrationslager und seine schließliche Rettung in die Schweiz zum Inhalt hatte, die schon lange bestehenden Zweifel an der Authentizität des Werkes begründete, erzeugte er damit einen medialen Aufruhr. Wie wir uns erinnern, wurde der schmale Band rasch in mehrere Sprachen übersetzt und erhielt Preise, vorwiegend von jüdischen Organisationen. Mit dem Buch wurde auch sein bis dahin unbekannter Autor zum international gefragten Experten für die Psychologie der Erinnerung von Überlebenden, die als Kinder deportiert wurden. In dem Maße, wie sich die Bedenken an der Echtheit des Buches und der Identität seines Autors erhärteten, wandelten sich dann die Erschütterung durch jenes und das Mitleid mit diesem in blanke Aggression gegen Wilkomirski, alias Doessekker. "Bruchstücke" selbst, wenn man sich denn noch mit diesem Werk beschäftigte, tat man bestenfalls als Kitsch (Ruth Klüger) ab oder subsumierte es unter die Kategorie "Holo-Porn" (Norman G. Finkelstein). Im Mai 2001 lud das Potsdamer Moses - Mendelssohn - Zentrum unter anderen die wichtigsten Protagonisten der Debatte, Daniel Ganzfried und Stefan Mächler, der im Auftrag von Wilkomirskis Agentur den Fall vom historischen Standpunkt untersuchte, zu einem Symposium, um diesen, seine Voraussetzungen, Begleitumstände und Konsequenzen noch einmal zu diskutieren. Darüber hinaus sollten das Spezifische ebenso wie die Konstanten der Affäre im Vergleich mit anderen ähnlich gelagerten Fällen beleuchtet werden. Wie in der nunmehr vorliegenden Dokumentation dieser Tagung nachzulesen ist, ging es dabei nicht nur um literarische Texte, wie etwa Jakob Littners Erinnerungen in der Version von Wolfgang Koeppens Roman "Aufzeichnungen aus einem Erdloch", oder Zvi Kolitz' "Jossel Rakovers Wendung zu Gott", sondern auch um Nicht-Juden, die sich, sei es beispielsweise aus Geltungssucht oder Habgier, eine jüdische Identität zugelegt haben. Dies füllt den zweiten Teil des Bandes "Das Wilkomirski-Syndrom". Der erste enthält unter anderem einen Ausschnitt Daniel Ganzfrieds Erzählung "Die Holocaust-Travestie". Dieser und die neu hinzugekommene Einleitung sind in einem polemischen Ton geschrieben, der die Emotionen ihres Schöpfers überdeutlich macht. Ganzfried verurteilt mit jedem Satz, wodurch er sich, wie auch seine Wortmeldungen in der am Buch-Ende abgedruckten Podiumsdiskussion zeigen, angreifbar macht.

Mit zwei Beiträgen kommt Stefan Mächler zu Wort. Im ersten gibt er eine Kurzfassung seines Buches "Der Fall Wilkomirski", rollt diesen also nochmals vom historischen Standpunkt auf. In seinem zweiten Beitrag setzt er sich mit dem Kontext auseinander, in dem Buch und Skandal gedeihen konnten und widmet sich Überlegungen zum "Holocaust-Gedenken als Zivilreligion und grundlegende[n] Mechanismen historischer Zeugenschaft". Auf wesentlich unaufgeregtere Weise als Norman Finkelstein und Daniel Ganzfried dies tun, stellt Mächler den Umgang mit dem Holocaust zur Debatte, wie er nicht nur die Feuilletons, sondern auch das interessierte Publikum derzeit prägt. Auf den Umstand, dass die emotionsgeladene Affäre, nachdem sie sich anfangs nur auf Wilkomirski konzentrierte, bald für die Literaturwissenschaft interessant wurde, die den Text selbst nach Rezeptionshinweisen untersuchte, die sogar Fachleute von seiner Authentizität überzeugt hatten, kann der Historiker Mächler nur hinweisen. Es ist die Literaturwissenschaftlerin Eva Lezzi, die in ihrem Beitrag über "Wilkomirski und die Schweiz" "Bruchstücke" als "literarisches Konstrukt" ernst nimmt. Sie sieht dabei die Rezeption von Wilkomirskis Werk in unmittelbarem Zusammenhang mit der Debatte über die Rolle der Schweiz während des Nationalsozialismus und demonstriert, wie das im Text gezeichnete Schweiz-Bild ständig den Holocaust evoziert. Die Lagererfahrung des kleinen Binjamin habe nicht mit der Befreiung geendet, sondern sich nach seiner Ankunft in der Schweiz fortgesetzt. Anders als in früheren Holocaust-Berichten handle es sich in "Bruchstücke" dabei aber nicht nur um ein episodisches Nachwirken der Vergangenheit, sondern um ein strukturgebendes Kompositionsprinzip. Es sind bekanntlich nicht lediglich die Lebensumstände in der zeitgenössischen Schweiz, die Wilkomirskis "Lager-Identität" immer wieder evozieren, sondern das Kind interpretiert auch den in der Figur des Wilhelm Tell inkarnierten Schweizer Ursprungsmythos mit Bezug auf den Nationalsozialismus. Durch die Gegenüberstellung von Nachkriegserfahrung und "Lager-Erinnerung" gibt der Erzähler so wiederholt einen Rezeptionshinweis, der nicht nur die Authentizität des Textes reklamiert, sondern der für den Leser erst den Holocaust als Erfahrungsgrundlage des Ich-Erzählers manifestiert. Der Psychotherapeut und Psychiater Hans Stoffels, der Wilkomirski 1997 bei einer Tagung über "Spätfolgen der Verfolgung" in Wien traf, beleuchtet den Fall Wilkomirski von der psychologischen Seite. Er beschreibt die Pseudoerinnerung, die mit der Erfindung einer neuen Identität, der Pseudologie, zusammenhängt, als einen relativ gut erforschten psychologischen Tatbestand. Für den Fall Wilkomirski interessant ist die Verbindung von Pseudologie und dichterischer Begabung, wie sie sich etwa bei Karl May zeigte. Eines der eindrucksvollsten Kapitel in dem vorliegenden Buch stammt von der Biographie-Forscherin Gabriele Rosenthal. Sie beschäftigt sich in ihrem Beitrag "Erzählte Lebensgeschichte zwischen Fiktion und Wirklichkeit" mit den "falschen" Erinnerungen bzw. Erinnerungssegmenten in den Erzählungen von Überlebenden. Ihre Forschungen haben gezeigt, dass und bis zu welchem Grad das Erinnerte nicht nur durch nachträgliche Überzeugungen, sondern beispielsweise auch durch internalisierte Moralvorstellungen geprägt ist. Sie sucht daher mittlerweile nicht mehr nach der "Wahrheit", sondern es geht ihr darum, Funktion und Bedeutung von Inkonsistenzen in den Erzählungen der Überlebenden für diese selbst zu ergründen. In diesem Sinne plädiert sie bei der Auswertung von erzählten Lebensgeschichten "nicht für eine Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion, sondern für die Unterscheidung zwischen verschiedenen Wirklichkeiten: der erlebten und der erzählten". Bezieht man das auch auf die Lagermemoiren, so heißt dies, dass wir anscheinend nicht nur "Bruchstücke", sondern auch andere Lagertexte falsch rezipiert haben. Anstatt die Authentizität der Texte an der Wahrhaftigkeit ihrer Aussage über die Vergangenheit zu messen, sollten wir sie eher als Manifestationen der Schreib-Gegenwart auffassen. Wenn uns, besonders als Literaturwissenschaftlern, bei "Bruchstücke" nicht mehr die tatsächlich erlebte Wirklichkeit beschäftigt, sondern vielmehr die erzählte, dann stellt sich die Frage nach der historischen Authentizität nicht, die sich textimmanent, wie die Rezeption des Werkes zeigte, ohnehin kaum schlüssig beantworten lässt. Dafür erhalten wir Auskunft darüber, wie der Mord an den Juden immer noch unser Denken bestimmt, und zwar gleichermaßen dasjenige des Autors wie das seiner Rezipienten, und wie umgekehrt auch gegenwärtige Vorstellungen unser Bild vom Holocaust prägen. Obwohl die Herausgeber offensichtlich noch zusätzliche Beiträge aufgenommen haben, kann "Das Wilkomirski-Syndrom" doch den Charakter des Tagungsbandes nicht verleugnen. Es handelt sich um eine mehr oder minder zufällige Sammlung von Aufsätzen mit einigen Wiederholungen von Details und ungleicher Gewichtung der behandelten Thematik. Auch im Stil unterscheiden sich die einzelnen Beiträge wesentlich. Trotzdem ist der Versuch der Herausgeber zu begrüßen, den Fall Wilkomirski nicht nur in seiner historischen, zeitgenössischen und psychologischen Dimension zu beschreiben, sondern durch die Vorstellung ähnlicher Fälle auch den Kontext auzuloten.

Titelbild

Irene Dieckmann / Julius H. Schoeps (Hg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht Opfer zu sein.
Pendo Verlag, Zürich 2002.
366 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3858424722

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch