Die Erleuchteten kommen

Dietmar Bittrich und Christian Salvesen informieren über die Satsang-Szene in Deutschland

Von Jens HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

'Satsang' ist indisch und heißt Beisammensein in Wahrheit. Es ist der Name eines Typs von Veranstaltungen, die in der westlichen Welt seit einigen Jahren wachsenden Zulauf haben. Zum Satsang, manchmal auch nüchtern als 'Meeting' oder 'Talk' angekündigt, versammeln sich ein spiritueller Lehrer, ein Erwachter oder gar Erleuchteter und seine Schüler. Zu welcher Wahrheit ist der Erwachte erwacht, welche Wahrheit hat den Erleuchteten erleuchtet? Dass das Ich eine Fiktion sei. Das Ich, damit ist zunächst das auktoriale Ich gemeint, das Subjekt als der (Mit-)Urheber der je eigenen Erfahrung. Daß es dieses Ich gar nicht gebe, bedeutet, daß wir unsere Erfahrung unser Denken, Sprechen, Tun nicht selbst hervorbringen, ja zu seiner Hervorbringung nicht einmal beitragen.

Nicht nur das anerzogene, zum gesunden Menschenverstand gewordene Selbstverständnis des Westlers, auch die westliche Philosophie sträubt sich gegen diese These mit Händen und Füßen. Die Philosophie allerdings nicht ausnahmslos. Heidegger, ihr bedeutendster Kopf im 20. Jahrhundert, hat dargetan, daß "die Sprache spricht", nicht etwa der Mensch, dass überhaupt jedes menschliche Tun von dem ereignet wird, was er das "Sein" nannte. Aber Heidegger, der sich in den Nationalsozialismus verstrickte, war außerstande, sich zu seinem Unfall auf der Höhe seiner Einsichten zu verhalten, und er hat dadurch die Wirkungschancen seiner Philosophie schwer beschädigt. Das kleine Ich des Philosophen war wichtiger als das Schicksal der Welt. Dabei gibt es natürlich, wenn es keine 'subjektiven Leistungen', keine subjektiven Anteile an der Konstitution von Erfahrung gibt, weder Verdienst noch Versagen, und weder Grund also für Stolz noch für jenes Beschämtsein, das Heidegger fürchtete. Aber auch wenn das Leiden nur seelischer Phantomschmerz ist; als solcher ist es real.

Wenn wir nicht Urheber unseres Tuns sind, sind wir dann verantwortlich dafür? Heidegger hat den Begriff der Verantwortung zu retten versucht. Doch kommt man wohl auch ohne ihn aus. Wir sind nicht verantwortlich für unser Tun, aber wir haben die Folgen zu tragen. Konditionierungsversuche, die die Wiederholung eines Fehlverhaltens ausschließen sollen, sind wohlbegründet, und wir müssen sie erdulden. Konditionierungsversuche, nicht Strafe. Natürlich sind Moral und Recht unserer Kultur tief von der Fiktion des selbstbestimmt handelnden auktorialen Ichs geprägt, auch wenn die Justiz die Psychiatrie neben sich duldet, auf Strafe zugunsten von Therapie verzichtet. Gibt es keine Schuldfähigkeit, so kann es auch keine verminderte geben. Freud und Heidegger haben diese Vorstellung immer abgelehnt. Wer Amok gelaufen ist, hat keinen Anspruch auf verminderte 'Straf'-Zumessung, wenn er fünf Promille Alkohol im Blut hatte. Er ist, sine ira et studio, einer Konditionierung im vollen Ausmaß zu unterziehen damit er künftig auch mit fünf Promille Alkohol im Blut nicht Amok läuft.

Beim Satsang geht es vor allem um die zweite Bewandtnis, die es mit der Fiktion des auktorialen Ichs hat: Wenn dein Fehlverhalten kein Versagen ist, dann kann es dich auf dem Grund deiner Seele nicht beschämen, dann kann Kritik dich nicht kränken, dich nicht in deiner Würde verletzen. (Auch ein Begriff aus der Sphäre des auktorialen Ichs: die 'Würde' des Menschen. Wir haben keine, genauer: wir haben weder Würde, noch haben wir keine.) Dann kannst du dir deine Leidensgeschichten, deine imaginären Kämpfe, dein Pochen auch auf vermeintliche Verdienste, die du auf der 'Haben'-Seite dem 'Soll' entgegenstellen möchtest, schenken. Dann kannst du Vergangenheit und Zukunft auf sich beruhen lassen. Satsang, das Beisammensein mit solchen, die diese Wahrheit in großer Tiefe erfahren haben, vermittelt den Geschmack am Auf-sich-beruhen-lassen. Die alten Geschichten, von denen du längst ahnst, dass das immer wieder erneute Durchkauen, nur dem Wiederholungszwang folgend, sie nicht bewältigen wird, zerfallen, kaum dass sie sich im Bewußtsein melden. Sie zerfallen, werden nicht etwa verdrängt, was die Sache ja verschlimmerte.

Vor dem Verdrängen haben auch die großen Weisheitslehren des Ostens gewarnt. Die unnützen Gedanken zerfallen und geben einem anfangs vielleicht stumpfen, später immer schärfer werdenden Gewahrsein des Gegenwärtigen Raum. Einem Gewahrsein, das, statt den fiktiven Leidensgeschichten des Ichs zu folgen, immer ausschließlicher den gegenwärtigen Schmerz gewahrt, dem die Geschichten ebenso ausweichen, wie sie ihn zu bewältigen suchen. Satsang ist keine Psychoanalyse. Beim Satsang geht es um das Gewahrsein des Hier und Jetzt. Wo das Hier und Jetzt allerdings Schmerz ist, da gibt es Parallelen: wie in der Analyse soll auch beim Satsang nichts verdrängt werden; wie der Satsang zielt auch die Analyse auf das starke Gefühl im gegenwärtigen Augenblick. Die Analyse um des kathartischen Effekts willen, der Satsang um seiner, des Gefühls, selbst willen, in der Erkenntnis, daß der erwachte Mensch das Gefühl nicht braucht fliehen zu wollen. "Man fühlt nach wie vor Schmerz, Leid und Trauer, aber sie können einen nicht mehr von ihrer Bedeutsamkeit überzeugen, man ist nicht mehr Opfer des Lebens, sondern dessen Zeuge. Es ist sogar so, dass man sich auf seine Gefühle viel intensiver einlassen kann, weil man keine Angst mehr vor ihnen hat. Der Film des Lebens wird lebhafter und bunter, weil man ihm weder nachjagt noch ihn vermeidet und nicht mehr versucht, ihn zu 'verbessern'." (Ken Wilber)

In den Tiefen der Seele allerdings, so eine Überzeugung, die dem Satsang zugrunde liegt, hat unser Leben immer schon diese Lebhaftigkeit und Buntheit. Beim Satsang geht es folglich nur darum, das Gewahrsein zu voller Bewußtheit, zu voller Klarheit zu erwecken. Die Erwachten, die den Geschmack am Wachsein zu vermitteln suchen, brauchen sich dafür weder durch Staatsexamen noch durch kassenärztliche Zulassung auszuweisen. Sie werden zum Lehren, wenn die Zeit gekommen ist, durch ihre eigenen Lehrer ermuntert. Oder sind nicht einmal selbst in die Lehre gegangen, sondern durch Schlüsselerlebnisse und - erfahrungen erwacht. Bittrich und Salvesen geben die Anzahl derer, die im Westen an festem Ort und/oder auf Tourneen Satsang-Veranstaltungen anbieten, mit etwa zweihundert an. Eine äußerst geringe Zahl, die zu der Annahme berechtigt, dass diese Leute etwas zu vermitteln haben, was man bei den allermeisten der zahllosen Psychotherapeuten und Philosophieprofessoren vergeblich suchen würde.

Die indische Herkunft des Satsang (dessen Grundwahrheit von vielleicht allen Schulen östlicher Weisheit gelehrt wird) ist an den Beinamen vieler Lehrer erkennbar. Die Amerikanerin Gangaji heißt bürgerlich Antoinette Varner und erhielt ihren (auf den Ganges anspielenden) Beinamen von ihrem Lehrer H. W. L. Poonja, einem Meisterschüler Ramana Maharshis (1879-1950), des Begründers der neueren Satsang-Tradition. Arjuna heißt eigentlich (oder uneigentlich) Nick Ardagn, Pyar wurde als Franziska Troll geboren, Yod als Udo Kolitscher. Aber es gibt auch 'Satsang mit Gertrud' und 'Satsang mit Torsten'. Karl Renz, ein Erwachter mit großer denkerischer Begabung, führt seine 'Selbst-Gespräche' als Karl Renz. Auch Elke von der Osten, obwohl bei Bhagwan Shree Rajneesh in die Schule gegangen, firmiert unter ihrem vollen bürgerlichen Namen. Das Zufallsprogramm "von der Osten" könnte allerdings kein indischer Name übertreffen.

Bittrich und Salvesen stellen in ihrem Buch gut zwei Dutzend jener etwa zweihundert im Westen wirkenden Lehrer vor, zitieren aus ihren Schriften und beschreiben ihre Veranstaltungen. Es gibt Satsangs, in denen viel geredet, und solche, in denen viel geschwiegen wird; in den letzteren sollen oft Blick und Widerblick, der Blick in die tiefe Leere im Blick des Lehrers das Erwachen befördern. Es gibt Satsangs, in denen durch Rahmen und Rituale Abstand vom Alltagsleben hergestellt wird, vom stumpfsinnigen 'Om' minderer Meditationsmusik über brennende Kerzen in hohen Leuchtern und die Bildnisse der spirituellen Ahnen und Mentoren an der Wand bis hin zum Ablegen der Schuhe, zum Namaste, dem Gruß mit gefalteten Händen. Es gibt aber auch Satsangs, die ohne all dies auskommen. Bei Renz bekommt, wer will, nicht einmal kalte Füße.

Kein gebildeter, durch die Schule der großen Philosophie gegangener Abendländer wird über die Weisheit des Ostens die Nase rümpfen. Nur wenige aber werden sie ganz für voll nehmen. Gewiß, so denkt man, diese Lehren sind kein "bewußtseinstrüber Schwachsinn" (Wilber), aber sie verbinden Irrtümer mit allzu vage Gesehenem, sie bedürften der Klärung durch die "Arbeit des Begriffs" und würden uns doch nichts verraten, was wir nicht längst schon wissen. Letzteres ist ernstlich in Frage zu stellen. Auch in Gestalt der Satsang-Bewegung, die sich an Jedermann, an Gebildete und Ungebildete wendet, sickert diese Frage in den Westen und sein Selbstverständnis ein. Vielleicht läßt die unabweisbar gewordene Einsicht in die Unbeherrschbarkeit der Mächte, die unsere Kultur ihrem Ende (und vielleicht einem neuen Anfang) entgegentreiben lassen, die Erkenntnis reifen, dass wir nicht nur diese Mächte nicht zu beherrschen, sondern kein Geschehen zu fürchten brauchen.

Titelbild

Dietmar Bittrich / Christian Salvesen: Die Erleuchteten kommen. Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens.
Goldmann Verlag, München 2002.
281 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3442216125

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch