Vom Schmerz, auf der Welt zu sein

A. L. Kennedy über ein kompliziertes Vater-Tochter-Verhältnis und die Liebe zum Schreiben

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Roman der schottischen Autorin A. L. Kennedy handelt von einer mystischen Gemeinschaft von sechs in Todessehnsucht und Hoffnung auf Gnadenbeweise Verschworenen, in die als Siebte Mary Lamb eintritt, eine 19-jährige Waliserin. Sie möchte Schriftstellerin werden und bekommt ein Stipendium, das ihr sieben Jahre Aufenthalt auf der Insel Foal Island ermöglicht, dort, wo eben jene Verschworenen, ihres Zeichens Autorinnen und Autoren und jeweils mit persönlichen Traumata ausgestattet, dem Leben mit dem Mut zum Tod zu trotzen versuchen. Sie wirken wie Gestrandete, die sich mühsam zwischen Leben und Nicht-Leben bewegen. Joe ist eine Art Vorsitzender und hat mit dem Schreiben aufgehört, Lynda und Richard sind in einer merkwürdigen nymphomanisch-masochistischen Konstellation verbunden, Ruth quillt über vor Haibildern und leidendem Mitgefühl, Louis ist der Archivar der Gruppe und Nathan ist der aggressive Zyniker mit Hund und nur einem Lungenflügel.

Was die Sache verkompliziert, ist die Tatsache, dass Marys Mentor Nathan ihr leiblicher Vater ist, den sie selbst verstorben glaubt. So hat es ihr die Mutter erzählt, obwohl diese diejenige war, die den Vater gezwungen hat, die Familie zu verlassen. Mary selbst wird später von der Mutter an ein homosexuelles Paar gegeben, die 'Onkel' Morgan und Bryn, zwei liebenswerte ältere Männer mit Macken und Asthma. Das erste Verlassen ist fünfzehn Jahre her und machte aus Nathan einen verlassenen und einsamen Selbstzerstörer, der statt 'richtiger' Romane Horrorliteratur verfasst.

Die beiden Protagonisten Nathan und Mary werden bereits in den ersten Kapiteln im Kontext von Tod und Sexualität zusammengeführt. Nathan startet einen weiteren Todesversuch, diese merkwürdige Spielart eines misslingenden Selbstmordes gehört zu den Regeln der Inselgruppe, Mary erlebt mit ihrer ersten Liebe Jonathan zum ersten Mal Sex. Überhaupt spielen Gewalt, Horrorfantasien, Sex, Blut, Obszönitäten - in detaillierter Anschaulichkeit ausgeführt - eine große Rolle, zumindest im ersten Drittel des Buches. Erst dann lässt der innere Horror, dem Nathan fast zwanghaft ausgeliefert ist, langsam nach. Denn er versucht wieder Mensch zu werden, für seine Tochter und deren Initiation in die Gnade, Schriftstellerin zu sein.

Neben die Figuren und ihre inneren Welten voller Schmerz und Leid treten die großen und kleinen Tragödien und Glücksfälle des Lebens der Sieben: Mary und Jonathan finden nach Wirren wieder zueinander, Nathan und seine große Liebe Maura nicht; die Onkel sterben, Unfälle passieren, weitere Todesversuche der Gemeinschaftsmitglieder lösen Angst und gleichzeitig mehr Nähe aus, Marys erste Veröffentlichung wird gefeiert, schließlich die Fertigstellung von Marys erstem Roman.

Diese Initiation - Mary verfasst ihren ersten Roman - bringt viele leise Veränderungen bei Nathan hervor, auch bei der Gemeinschaft insgesamt und natürlich bei Mary, die mit dem fortschreitenden Schreibprozess an innerer Stärke gewinnt. Die großen Themen - Leben und Tod, Schmerz und Trauma, Sterben, Sex, Schreiben, die Liebe - werden anhand der inneren Entwicklung von Nathan und Mary und ihren Verbindungen zu den anderen Personen des Romans vorgeführt. Die Innenperspektive der beiden bestimmt den Erzählton und die Schwerpunkte des Romans, dahinter tritt die Handlung zurück. Die Autorin verzichtet zugunsten dieser allmählich sich aufbauenden inneren Spannung auf handlungsbezogene Fokussierungen, was im Verlauf der fast 600 Seiten zuweilen langatmig wirkt.

Der Titel erinnert an den Beatles-Song "All you need is love" und darum geht es in diesem Roman im Grunde auch, der so viel über Schmerz erzählt und dabei die Liebe meint. Ehrliche, mögliche, machbare Liebe und nicht zuletzt die Liebe zu sich selbst. Doch auch ohne letztere ist es Nathan nach vielen Bemühungen möglich, in winzigen Momenten so etwas wie Glück zu empfinden, das Glück, seiner Tochter nahe zu sein und sie einzuführen in die Welt des Wortes, der Literatur, der Verlagsszene, und sich darin zurecht zu finden.

Die präzise Darstellung kleinster innerer und äußerer Bewegungen, Gedanken und Emotionen, Selbst- und Fremdbilder, monologischer Selbstgespräche und persönlicher Kriege gegen sich selbst bleibt stimmig und macht den unvergleichlichen Erzählton des Romans aus. Dieses langsame und breite Erzählen, das genaue Beobachten und Wiedergeben von Kleinigkeiten gibt der Schilderung der Vater-Tochter-Beziehung, die eine Annäherung an die eigenen Schmerzen bedeutet, eine hohe Intensität. Die Angst weicht schließlich dem freundschaftlichen Verhältnis, es wird zum Ende hin viel umarmt und geküsst, doch der letzte Schritt, die Offenbarung des Mentors als Vater, bleibt dem geschriebenen Wort überlassen. Nathan schreibt im Verlauf der sieben Jahre mit seiner Tochter einen letzten guten Roman. In ihm steht seine Geschichte, die Geschichte eines verlorenen Vaters, der nur durch die Begegnung mit seiner Tochter den Glauben an die Gnade der Hoffnung wiederfindet.

Titelbild

A. L. Kennedy: Alles was du brauchst. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002.
573 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3803131723

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch