Gute Performance - zur Konjunktur eines Theorieparadigmas

Am Beispiel des eines Sammelbandes aus der Schule von Christoph Wulf

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt zauberhafte Begriffe - Performance ist so einer. In der Börsenwelt bezeichnet er die Kursentwicklung einer Aktie oder eines Aktienpakets. Die Performance des Begriffs der Performance hat sich auch nicht schlecht entwickelt, Investitionen zahlen sich aus. Man spricht von einem "Performative turn", der schon in seiner Namensgebung eine ähnliche Bedeutung beansprucht wie seinerzeit der "Linguistic turn". Und mittlerweile hat sich ein weites Feld von "Performance studies" ausgebildet, was ein deutliches Anzeichen einer aufstrebenden Konjunktur ist. Damit hat der Begriff der Performance eine ähnliche Entwicklung genommen wie andere Theorieaktien, z. B. der Begriff der Struktur, des Systems, der Kultur, des Gender, des Postcolonial. Und es verwundert nicht, dass all diese Begriffe auch im 'performativen' Kontext wieder auftreten, neu definiert und zum Teil auch neu fundiert werden.

In diesem Kontext ist auch der Sonderforschungsbereich "Kulturen des Performativen" an der Freien Universität Berlin angesiedelt, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist. So kann dieser Band zweierlei deutlich machen: Zum einen liegt hier in der Tat eine lesenswerte Einführung in die derzeitige Performanzforschung vor, zum anderen ist der Band selbst ein Beispiel dafür, wie die Performanzforschung Gegenstände der Philosophie, insbesondere der Sprachphilosophie, aber auch der Moralphilosophie, der Diskurstheorie und der Dekonstruktion, der Kulturtheorie, der Gesellschaftstheorie oder der Gendertheorie neu aufgreift und deren Feld mit eigenen Akzenten neu besetzt. Diese Einführung wird schon im Untertitel als "Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln" ausgewiesen. Damit wird der weite Zuständigkeitsbereich abgesteckt, den die Performanzforschung für sich reklamiert und auch reklamieren kann, wie der Band eindrucksvoll beweist.

Um den Band forschungsstrategisch einschätzen zu können, bleibe ich zunächst bei der Börsen-Metapher und frage wie ein Analyst nach den Voraussetzungen dieser Entwicklung und nach den Prognosen. Im Begriff oder besser im Begriffsfeld der Performance finden sich die unterschiedlichsten Ausprägungen des Begriffs, auf die auch die Herausgeber einleitend eingehen. Von performance ist ebenso die Rede wie von der Performanz. Während mit der Eindeutschung eine Abstraktion einhergeht, verweist der englische Begriff vor allem auf den ästhetischen und, enger gefasst, avantgardistischen Kontext. Hier wird der Bogen von der theatralischen Aufführung bis hin zum avancierten Aktionstheater geschlagen und damit die ästhetische Dimension generell mit in das Begriffsfeld eingeführt. Die Begriffe Performanz und Performativität bezeichnen dagegen eher den prozessualen Aspekt von Sprache und Handeln. In der Gegenüberstellung von Performanz und Kompetenz durch Chomsky, die vor allem in der Sprachwissenschaft eingeführt ist, wird genau dieses aktionale und dynamische Moment gegenüber dem systematischen und statischen hervorgehoben - eine Differenz, die sich auch auf Saussures Unterscheidung von parole (das Sprechen) und langue (dem Sprachsystem) zurückbeziehen lässt.

Alle diese Begriffe gehen auf Verbformen zurück, performare, to perform, die einerseits auch den Begriff der Form enthalten, aber andererseits durch das Kompositionselement 'per' gleichermaßen das Aktive und Prozessuale hervorheben. Wo also die Form auch so etwas wie Gestalt oder Erscheinung oder Bild bedeutet, fügt die Vorsilbe 'per' den Prozesscharakter hinzu. Aus der Gestalt wird die Gestaltung. Performance beschreibt lediglich den Aufführungs- und Inszenierungsaspekt, doch in diesem Kontext gewinnt der Begriff eine konstitutive Bedeutung. Performanz ist ein konstitutiver Akt, der das, was er bezeichnet, eben gerade dadurch schafft, dass er es bezeichnet. Performanz ist daher auch Formung von Wirklichkeit.

Auf dieser semantischen Grundlage kann der Performanz-Begriff einerseits expansionistisch ausgreifen und eine kaum absehbare Bandbreite an Phänomenen neu beschreiben, aber er kann andererseits auch eine integrative Funktion erfüllen, indem er diese Bandbreite auf eine Grundfigur des Performativen zurückführt. So wird aus dem Begriff ein forschungsleitendes Paradigma von beeindruckender Schlag- und Überzeugungskraft. Die integrative Funktion besteht nun gerade darin, ein übergreifendes, transdisziplinäres Beschreibungsmodell zu liefern, das die Bandbreite der Phänomene nicht nur entfaltet, sondern auch auf eine einheitliche Linie bringt. Fast wie ein Motto oder Leitspruch mutet die Formulierung Bubers an, die Monika Wagner-Willi in ihrem Beitrag zitiert: "Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht." Darin sind die wichtigsten Aspekte enthalten: Erstens, Performanz ist ein Geschehnis, das seinen eigenen Effekt überhaupt erst hervorbringt. Man könnte sagen: es ist ein aktives Geschehen, ein Geschehen-Machen mehr als ein Geschehen-Lassen. Zweitens, Performanz bezieht sich in erster Linie auf soziale Phänomene, ja mehr noch, Performanz ist ein Begriff für die Sozialität und soziale Relevanz von Geschehnissen. Und drittens, der Performanzbegriff löst nicht nur ein statisches Verständnis ab, sondern zeigt auch, dass das, was wir statisch beschreiben (Gemeinschaft), überhaupt nur 'ist', weil es 'geschieht'.

Damit rückt der Begriff des Performativen in die Nähe des Begriffs der Autopoiesis, wie er von Luhmanns Systemtheorie zur Beschreibung von Gesellschaft verwendet wird. Doch anders als Autopoiesis fokussiert der Begriff der Performanz gerade den Handlungsaspekt, den das Konzept der Autopoiesis ausschließen, zumindest in die Umweltkomplexität verschieben muss. Umgekehrt kann man aber daraus auch ableiten, dass die Autopoiesis von Gesellschaft nichts anderes darstellt als die umfassende Autoperformanz von Gesellschaft.

Doch auch dies kann ein Vergleich mit der Autopoiesis verdeutlichen: Performanz ist daher nicht so sehr selbst als Phänomen zu verstehen, sondern vielmehr eine Beschreibungskategorie, die Phänomene als Phänomene der Performanz überhaupt erst hervortreten lässt. Ich führe darauf einen Großteil des Erfolges der performance studies zurück. Sie fokussieren nicht neue Dinge, sondern fokussieren das, was Theorien im Umfeld von Geistes- und Sozialwissenschaften vor allem unter der neueren Bezeichnung Kulturwissenschaft immer schon fokussiert haben: Gesellschaft und Gesellschaften, gesellschaftliche Institutionen, Entwicklungen und Prozesse, die Sprache und das Sprechen der Menschen, ihre Symbole, ihre Diskurse, ihr Handeln, ihre Macht und Machtverteilungen - aber sie beschreiben es als performativ.

Damit ist ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel verbunden, weil statische Beschreibungen immer - in einer unausweichlichen Verobjektivierungstendenz - zugleich das Beschriebene als statisch verfasst oder konstitiuiert sehen. Auch Beschreibungen, die auf Performativität abheben, beschreiben ihren Gegenstand als performativ, ja als konstitutiv performativ, aber dabei machen sie jenen Überschlag von der Ebene der Beschreibung zu der des Beschriebenen einsichtig und nachvollziehbar; so wird erst die konstitutive Bedeutung des Performativen offenbar. Gesellschaft muss so beschrieben werden, dass deutlich wird, dass sie geschieht, dass sie sich vollzieht, dass sie sich in ihren Vollzügen zugleich und auf vielfältige Weise konstituiert; und es muss auch deutlich werden, dass sie nicht einfach besteht, sondern nur 'ist', insofern sie geschieht. Das lässt sich an allen Beiträgen des Bandes mehr oder weniger explizit nachvollziehen.

Die integrative Leistung des Performanz-Begriffs besteht aber nicht nur in der Zusammenführung unterschiedlichster Ansätze, sondern auch in der Verknüpfung der Konzepte. Denn im Performanzbegriff können so unterschiedliche Entitäten wie Menschen, Diskurse, Gesellschaften, Praktiken, Institutionen integriert und dennoch funktional aufeinander bezogen werden. Insbesondere gelingt dabei der Brückenschlag zwischen der symbolischen und der sozialen Sphäre, deren Trennung, ja Divergenz, und ihre Überwindung in den Geisteswissenschaften einerseits und in den Sozialwissenschaften andererseits seit langem diskutiert werden. Die Geisteswissenschaften, und die Literaturwissenschaft vor allen anderen, tun sich schwer, soziale Prozesse zu erfassen, die Zeichenhandeln immer schon begleiten, wenn nicht sogar fundieren, und die Sozialwissenschaften tun sich schwer, zeichentheoretische Konzepte zu integrieren und zu nutzen. Dass es hier wie dort Vorläufer gegeben hat, beide Sphären miteinander zu verknüpfen, sei zugestanden. Es ist ja gerade so, dass diese Vorläuferpositionen wie z. B. die Philosophie des Sozialen von Mead oder die Sozialtheorie von Bourdieu deswegen auch an so prominenter Stelle wieder im Rahmen der Performanzforschung auftauchen. Und damit wird wiederum diese Doppelperspektive des Performanz-Begriffs deutlich: Auf der einen Seite wird das Performative vom Konstativen, Statischen, Ontischen abgegrenzt, auf der anderen Seite aber werden Konzept- und Disziplingrenzen überwunden. Darin sehe ich den wichtigsten Legitimationsgrund für den Anspruch der Performanzforschung, ein neues Forschungsparadigma zu eröffnen und damit zugleich zu einem vorherrschenden Paradigma für Kulturwissenschaft generell zu werden.

Die Performanzforschung nimmt ihren Ausgang mit den sprachphilosophischen Überlegungen von Austin, der als erster im Ausgang des späten Wittgenstein systematische Überlegungen zur konstitutiven Bedeutung der Sprachpraxis angestellt hat. Nicht nur aus diesem Grund steht der Beitrag zu Austin (von Michael Göhlich) nach einer allgemeinen Einführung auch am Beginn einer Reihe von Beiträgen, die sich die Grundlagen des Performativen erarbeiten. An diesem Beitrag wird schon deutlich, was alle anderen Beiträge bestimmt: Es geht nicht so sehr und nicht ausschließlich um eine Rekonstruktion von Performanzbegriffen, sondern es geht darum, mit Hilfe einer solchen Rekonstruktion einen neuen Performanzbegriff als Instrument eines neuen Forschungsparadigmas zu entwickeln.

Insofern besteht der Band zentral aus zehn Beiträgen, die theoretische Konzeptionen auf ihre performanztheoretische Verwertbarkeit hin überprüfen. Dem Leser bietet sich eine äußerst attraktive Reihe solcher Positionen: nach Austin wird sie mit der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas, der Dekonstruktion von Derrida, der Sozialtheorie von Bourdieu, der Diskurstheorie von Foucault, der Gendertheorie von Butler, der Sozialphilosophie von Mead, der Rollentheorie von Goffman, der Ritualtheorie von Turner und schließlich der Mimesistheorie von Gebauer und Wulf (in Christoph Wulfs eigenem Beitrag) fortgesetzt.

Allen Beiträgen ist ein gemeinsames Prinzip eigen: Es geht darum, in all jenen Theorien und Konzeptionen das Performative auszuspüren und systematisch auszubauen. Damit wird auch eine beeindruckende Reformulierungsarbeit geleistet, ohne dass den Theorien und Konzeptionen Gewalt angetan würde. Das macht gerade den Reiz aus, in der fortlaufenden Lektüre diese Positionen unter performativen Vorzeichen Revue passieren lassen; sie erscheinen als Performanztheorie avant la lettre. Dennoch muss man differenzieren. Während Austin z. B. mit dem Begriff der Performanz arbeitet und ihn problematisiert (schließlich sogar zugunsten des Begriffs des perlokutionären Aktes austauscht), taucht der Begriff bei Foucault überhaupt nicht auf, weil sich Foucault gegen diese Konzeption entschieden hatte. Doch der Beitrag von Birgit Althans kann zeigen, dass in der Entwicklung von Foucaults Denken über die einzelnen Phasen hinweg ein implizites Konzept von Performanz dennoch immer vorherrschend war. Und gerade Foucaults Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Diskurs werden für die Performanzforschung äußerst wichtig, gilt doch in dem Rahmen Macht selbst als performatives Phänomen schlechthin. Und der daran anschließende Beitrag von Anja Tervooren zeigt an Butlers Rückgriff auf Foucault, wie der Performanzbegriff gerade gendertheoretisch verwertet werden konnte (wobei man allerdings die penetrant häufige Metapher von der Einschreibung in den Körper kritisch überdenken sollte). Die Beiträge von Michael Göhlich und Jörg Zirfas zu Habermas und Derrida zeigen, dass bei beiden Denkern, trotz der unterschiedlichen Konzeptionen, zentrale Ansätze des Performativen gegeben sind. Performanz wird - sozusagen nebenbei - auch zu einem Ort, an dem sich Habermas und Derrida treffen und sich dennoch unterscheiden. Wo der eine die Bedingung der Möglichkeit von Konsens als gesellschaftlicher Kommunikation beleuchtet, fokussiert der andere, konträr und komplementär dazu, die Bedingung ihrer Unmöglichkeit. Doch der performative Blick zeigt, dass beide auf dasselbe Problem zu beziehen sind. Ein Blick auf die Searle-Derrida-Debatte hätte dies vielleicht zusätzlich abrunden können.

Um die Idee der performanztheoretischen Verwertbarkeit unter Beweis zu stellen, beziehen sich nahezu alle Beiträge - zum Teil sogar in Einzelanalysen ausgewählter, konkreter und dokumentierter Situationen - auf erziehungswissenschaftliche Problemfelder. Ob es um das Verhältnis und den Austausch familiärer oder schulischer Autorität geht oder um die Inszenierung von Geschlechtlichkeit in schulischer Situation, der Performanzbegriff soll sich an einer Modellierung von Erziehung und an Situationsanalysen aus dem erziehungswissenschaftlichen Kontext bewähren. Diese Fokussierung wird trotz seiner Bedeutung nach außen gar nicht signalisiert; sie erscheint auch nicht im Untertitel. Dennoch kann der Band deutlich machen, dass die Erziehungswissenschaft ein geradezu prädestiniertes Erprobungsfeld für performanztheoretische Modelle darstellt; wohl nirgendwo sonst treten die interessierenden Faktoren wie Sprache, Handeln, Macht, Geschlecht, Ritualisierung und Inszenierung in einem so engen Bezugsrahmen auf wie hier.

Die Herausgeber haben sich sehr viel Mühe gegeben, die man hervorheben muss. Allein die attraktive Reihe macht aus dem Buch auch ein Lesebuch, das die wichtigsten Konzeptionen, die die Grundlage der Performanzforschung bilden, detailliert und fundiert vorstellt. Zudem besitzt der Band ein einheitliches Literaturverzeichnis, eine Liste mit Kurzbiographien der Philosophen, auf deren Konzeptionen die Beiträge zurückgreifen und schließlich eine Liste der abstracts aller Beiträge in deutsch und englisch, was eine wiederholte Lektüre erleichtern kann. Wer zumindest einige der Originaltexte von Austin bis Turner gesammelt nachlesen will, dem sei der von Uwe Wirth herausgegebene Sammelband "Performanz" aus der Reihe "Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft" (2002) empfohlen.

Titelbild

Christoph Wulf / Michael Göhlich / Jörg Zirfas (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln.
Juventa Verlag, Weinheim 2001.
318 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3779910756

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