Von der Anthropologie zur Ästhetik

Rüdiger Zymner legt einen Realienband zu Schillers Dramen vor

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine groteske Situation - mit Slapstick-Charakter - wiederholt sich und hätte beinahe Auswirkungen auf der höchsten Ebene deutscher Literaturgeschichte haben können. Schiller, späterer Klassiker, hielt sich für einen begnadeten Vorleser und Deklamator - und war es doch überhaupt nicht. Vor allem sein schwäbischer Dialekt, verbunden mit einem nicht vermittelbaren Pathos in der Stimme, hätte fast seine Dichterkarriere gefährdet. Seine Zuhörer sind irritiert und kommen zu der Meinung, seine - vorgelesenen - Stücke seien schlecht. Und erst, als sie sie später selbst in Ruhe lesen, entdecken sie das dichterische Potential, das in den Texten steckt.

Auch solch anekdotisches Wissen vermittelt der Band von Rüdiger Zymner, denn es gehört - wenn auch vielleicht nicht zentral - doch zum Entstehungs- und zeitgenössischen Rezeptionskontext von Schillers Dramen. Und insofern ist es in gewisser Weise auch exemplarisch zumindest für die umfassende Information, die der Autor gesammelt und aufbereitet hat.

Der Band behandelt die neun der wichtigsten Dramen Schillers: "Die Räuber", "Die Verschwörung des Fiesko zu Genua", "Kabale und Liebe", "Don Karlos", die "Wallenstein"-Trilogie, "Maria Stuart", "Die Jungfrau von Orleans", "Die Braut von Messina" und schließlich den "Wilhelm Tell" in dieser Reihenfolge, die zugleich die Chronologie der Stücke widerspiegelt.

Gleichzeitig macht der Band auch deutlich, dass diese Chronologie einigermaßen künstlich ist und auf den Daten der Erstausgaben bzw. Uraufführungen beruht, dass aber die Beschäftigung Schillers mit den Stoffen und Quellen und insbesondere mit seinen eigenen Textfassungen sich oft über einen sehr langen Zeitraum und über verschieden intensive Phasen der Auseinandersetzung erstreckt.

Und damit ist auch das wesentliche Charakteristikum des Bandes angesprochen. Denn es geht Rüdiger Zymner um eine umfassende Erhellung der Stücke von den ersten Entstehungsmomenten bis hin zu den jüngsten Interpretationsansätzen. Dabei gewinnt der Entstehungskontext zusammen mit dem Kontext der zeitgenössischen Rezeption eine besondere Bedeutung, weil der Verfasser von hier aus den Bogen zur Interpretation spannt und die ursprünglichen Informationen nicht nur einfach bereitstellt, sondern selbst interpretatorisch nutzt, z.B. wenn er die Distanz zwischen den "Räubern" bzw. "Kabale und Liebe" zum gattungsgeschichtlichen Kontext des Sturm-und-Drang-Theaters bzw. zum bürgerlichen Trauerspiel markiert und Schillers Innovationen verbunden mit seinem spezifischen Interesse hervorhebt.

Formal wird diesem Spannungsbogen durch eine einheitliche Kapitelgliederung Rechnung getragen. Jedes Drama wird einzeln in jeweils 4 Abschnitten verhandelt. Der erste Abschnitt betrifft "Entstehung und Einflüsse", der zweite die "zeitgenössische Rezeption", der dritte "Aspekte der Forschung" und der vierte bringt schließlich - auf der Basis der Informationen aus den drei vorhergehenden - den eigenen Interpretationsansatz, der dann jeweils mit einer Überschrift den thematischen Schwerpunkt prägnant benennt. Diese starre Gliederung ist ein funktionales Element des Bandes, nicht nur, weil sie die Information exakt strukturiert, sondern auch, weil dem Leser damit eine klare Orientierungshilfe an die Hand gegeben wird.

Bescheiden nennt Zymner die Ziele seines Bandes. Doch bescheiden muss er gar nicht sein. Denn er erfüllt die Aufgabe, die sich die Reihe der Klassiker Lektüren aus dem Erich Schmidt Verlag stellt, auf geradezu exemplarische Weise: dem Interessierten, nicht zuletzt dem Studierenden der Germanistik und Literaturwissenschaft ein Handbuch vorzulegen, das umfassend über die Texte, hier über Schillers Dramenproduktion, informiert. So liefert der Band eine Realiensammlung zum Thema, die diesen Namen durchaus verdient. Der Leser kann sich zielgenau darüber informieren, wie die Stücke konzipiert, wie sie aufgenommen wurden, welche Schwerpunktsetzungen die Forschung vorgenommen hat und welche interpretatorischen Perspektiven der Verfasser selbst für richtungsweisend für eine Auseinandersetzung mit den Texten hält. Und darüber hinaus erfüllt der Band dabei auch noch eine Brückenfunktion, weil er nicht nur Informationen zur Entstehung und Perspektiven der Interpretation zusammenspannt, sondern auch, weil er Kommentar, Erläuterung, Analyse und Interpretation in einem ist.

Dass bei der Zusammenfassung von Forschungsaspekten der eine oder andere nicht die Berücksichtigung oder Gewichtung erfährt, die der einzelne Leser vielleicht erwarten mag, ist unvermeidlich. Umgekehrt muss man aber gerade den Mut bewundern, aus einer schon zum Topos gewordenen Unüberschaubarkeit der Forschungsliteratur dennoch solche orientierungsleitenden Linien herauszudestillieren. Hilfreich sind sie allemal, vor allem für den Anfänger, der solche Schneisen durch den Forschungswald gut gebrauchen kann.

Zudem lässt sich die Kapitelfolge, insbesondere in ihren Interpretations-Abschnitten, auch als Werkgeschichte lesen. Gerade die Anfangskapitel sind dabei von Interesse, weil sie das Entwicklungsmoment Schillers und insbesondere den experimentellen Charakter des Schreibens für das Theater besonders deutlich herausarbeiten; die Interpretationsabschnitte der ersten drei Kapitel ("Räuber", "Fiesko", "Kabale und Liebe") sind daher mit "Theater-Versuche" überschrieben. So wird sichtbar, wie sich ein zunächst anthropologisches Interesse über den Weg eines sozialen und sozialpolitischen Interesses in ein ästhetisches Interesse wandelt, dabei aber zugleich anthropologische und sozialpolitische Fragestellung beibehält und erneut aufnimmt. Doch damit ist nur das Anfangsmoment einer schriftstellerischen Produktion bezeichnet, die sich neben den theoretischen Ansätzen zur Ästhetik, immer mehr gerade als eigenständiges ästhetisches Ausführungsprogramm versteht. Eigenständig heißt dabei auch, dass die Dramen nicht die ästhetischen Schriften illustrieren, sondern dass das ästhetische Programm der Dramen immer an die theaterspezifische Vorgabe der Darstellung grundlegender Konflikte gebunden bleibt. Im Kontext dieser Entwicklung wird die ästhetische Produktion der Dramen zu einem Medium, um Fragestellungen nach der Natur des Menschen, aber auch nach der Legitimität von Herrschaft, nach der politischen und gesellschaftlichen Organisation der Menschen, ästhetisch und theaterspezifisch aufzugreifen und zu behandeln. Wo aber zunächst nur ein ästhetisches Interesse neben die anderen tritt, wird die ästhetische Frage zunehmend zur zentralen Frage der Dramen selbst, deren Beantwortung jeder anderen Frage vorausgeht. Die Dramen - nicht zuletzt in ihrer Folge - machen deutlich, dass die Fragen nicht nur ästhetisch zu beantworten sind, sondern auch, dass die Antwort selbst, ja sogar jede Lösung für die in den Dramen verhandelten gesellschaftlichen Konfliktpotentiale, eine ästhetische sein muss. Diese philosophisch fundierte, aber im dramatischen Konflikt verdichtete Ästhetisierung ist daher auch das Medium, das es erlaubt, die historischen Stoffe auf die Aktualität von Schillers Zeit zu beziehen. Daran lässt sich die Entwicklung ablesen: Anders als noch vielleicht Don Karlos gewinnen und verlieren Maria Stuart, Wallenstein oder Wilhelm Tell nicht so sehr als historische Figuren, sondern vielmehr als ästhetische Menschen.

Wer den kleinen Finger bekommt, will die ganze Hand. Rüdiger Zymner bietet mindest drei bis vier Finger. Das wird nicht verhindern, dass man die ganze Hand will. Die Dramenproduktion ist fraglos die wichtigste Schiene in der Entwicklung von Schiller als Autor, als Dichter und Denker. Der Verfasser erwähnt zwar, wie die Dramenproduktion in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende zugunsten der theoretischen Produktion philosophisch-ästhetischer Schriften in den Hintergrund tritt. Wie aber beide Sphären zusammenhängen, wie die Dramen oder die Hauptfiguren auch als Um- oder gar Absetzung von den theoretischen Entwürfen zu lesen sind, bleibt im Hintergrund. Deutlicher wird schon die literaturgeschichtliche Einbettung, z.B. wenn der Verfasser zeigt, inwiefern Schiller mit "Kabale und Liebe" dem Muster des bürgerlichen Trauerspiels einerseits treu folgt, andererseits aber doch darüber hinaus geht, wenn er die Grundkonstellation zwischen Bürgertum und Hof komplexer gestaltet und schichtspezifische bzw. ideologische Aspekte anthropologisch und ästhetisch perspektiviert.

Schiller gehört zum Kanon im schulischen Literaturunterricht ebenso wie in den universitär-literaturwissenschaftlichen Seminaren. Hier wird man den Band empfehlen, hier wird er bald nicht mehr wegzudenken sein.

Titelbild

Rüdiger Zymner: Friedrich Schiller. Dramen.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2002.
187 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3503061339

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