Familie als Modell

Zur gegenwärtigen Konjunktur und Fragwürdigkeit von Generationenkonstrukten

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Geschichte von Familien gibt es eine Abfolge von Generationen zweifellos. Ihr Rhythmus ist biologisch und kulturell geprägt. Ein Mensch wird geboren, kommt ins gebär- oder zeugungsfähige Alter, wird mit sozialen Normen konfrontiert, die ihm nahe legen, wann er diese Fähigkeit produktiv werden lassen sollte; Kinder werden geboren, eine neue Generation wächst heran.

In familialen Sozialkonstellationen vermag die Realität der Generationenabfolge zuweilen erhebliche Anomalien aufweisen, doch lässt sich ihr gängiger Rhythmus einigermaßen klar bestimmen. Die Rede von Generationenabfolgen im Hinblick auf gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen ist hingegen pure Metaphorik, Erfindung, Konstrukt. Kultur und Gesellschaft werden hier nach dem Modell der Familie konzeptualisiert. Doch wörtlich genommen, hat die Rede eine Implikation, an die niemand ernsthaft glaubt: Sie präsupponiert die Vorstellung, dass die Geburten in einer Gesellschaft wie in einer Familie nur in Schüben von etwa fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren Abstand anfallen. Da sich eine Gesellschaft, wie jeder weiß, biologisch nicht in Zyklen reproduziert, sondern kontinuierlich, Tag für Tag, Jahr für Jahr, ist diese Vorstellung eigentlich ziemlich verrückt. Dennoch erfreut sie sich einer bemerkenswerten Attraktivität. Über sie und über ihre Gründe will ich schreiben. Ich will also gar nicht erst über die Wahrheit bestimmter Behauptungen über Generationenabfolgen in kulturellen und sozialen Entwicklungen rechten, ich will aber auch nicht die Rede von Generationen exorzieren. Denn wenn sie so gerne gebraucht wird, hat sie vermutlich auch ihren Sinn. Doch der versteht sich keineswegs von selbst. Ihm will ich daher genauer nachgehen und die dem angloamerikanischen Pragmatismus und Neopragmatismus vertraute Frage stellen, wem die Verwendung des Begriffs "Generation" in Diskursen über kulturelle Entwicklungen in welchen Zusammenhängen wozu dient, worauf zu welchen Zeitpunkten ihre Anziehungskraft beruht, welche Effekte Generationenkonstrukte intendieren oder auch tatsächlich haben. Alle Versuche, die Kategorie "Generation" in einem substantialistischen Sinn aufrechtzuerhalten, haben zu den frappierendsten intellektuellen und argumentativen Verrenkungen geführt. Die maßgebliche Schrift von Karl Mannheim ist dafür das vielleicht beste Beispiel. Für ihre Qualität spricht dabei, dass sie sich der grundsätzlichen Probleme der Übertragung familialer Gegebenheiten auf gesellschaftliche und kulturelle in allen Aspekten bewusst zeigt. Dass Mannheim dennoch an dieser Übertragung festzuhalten versucht, führt jedoch zu immer neuen Aporien.

Die biologistische bzw. "naturalistische" Grundierung einer Sozialtheorie der Generationen hat Mannheim klar erkannt: "Das soziologische Phänomen des Generationenzusammenhangs ist fundiert durch das Faktum des biologischen Rhythmus der Geburten und des Todes." Versuchte Mannheim allerdings mit großem argumentativen Aufwand den "Irrtum aller naturalistischen Theorien", aus "naturalen Gegebenheiten Soziologisches abzuleiten", hinter sich zu lassen, so bleibt dieser Naturalismus bei der inflationären Verwendung des Generationenbegriffs in kulturellen Diskursen deutlich präsent.

Der Artikel kann vollständig erst in der April-Ausgabe von literaturkritik.de erscheinen.


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Generationen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 120. Dezember 2000.
Herausgegeben von Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Klein, Brigitte Schlieben-Lange und Ralf Schnell.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
186 Seiten, 17,90 EUR.
ISSN: 00498653

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Heinz Bude: Generation Berlin.
Merve Verlag, Berlin 2001.
180 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3883961663

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Deutsche Shell (Hg.): Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustum Materialismus.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
457 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3596158494

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