Der "große" Brockhaus endlich "klein"

Die 24 Bände der 20. Auflage der Enzyklopädie digitalisiert

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gedruckt gibt es den "Brockhaus" schon immer in mehreren Versionen: Es gibt den "Brockhaus in einem Band" und den "Großen Brockhaus in einem Band", es gibt ihn in fünf Bänden und in 15, die letzteren in verschiedenen Einbandgestaltungen und Auflagen; und für Leute mit viel Platz und Geld gibt es den Brockhaus, natürlich, in 24 dicken, in Leder oder Halbleder gebundenen Edelbänden, der eigentliche, der "wahre" Brockhaus sozusagen. Seit einem Jahr gibt es dieses umfassendste deutschsprachige Nachschlagewerk auch als broschierte Studienausgabe, für nur etwa ein Drittel des Preises der Luxusausgabe - was freilich immer noch 999,90 Euro und viel Platz im Regal bedeutet [s. Rezension in literaturkritik.de 2001-10].

Im Multimedia-Bereich (CD-Rom, DVD) führten die Prinzipien der Mehrfachverwertung und Differenzierung bislang zu folgender Lage: Es gab, für Puristen und Pfennigfuchser, einen "Brockhaus in Text und Bild", außerdem, als Hauptkonkurrent zu der diese Preis- und Leistungsklasse seit Jahren dominierenden "Encarta" von Microsoft, einen "Brockhaus multimedial", letzteren in einer Normal- und in einer Premiumausgabe [s. Rezension in literaturkritik.de 2002-04]. Was es jedoch nicht gab, war den "großen" Brockhaus, den 24-bändigen, auf CD-Rom, obwohl sich natürlich gerade hier die Vorteile einer elektronischen Zugriffsmöglichkeit - Schnelligkeit, Vernetzung der Artikel und Stichwörter, ständige Aktualisierung per Internet-Update, multimediale Ergänzungen wie Filme, Musikbeispiele und Interaktivitäten und vor allem natürlich die Einsparung kostbarer Regalmeter - am deutlichsten bemerkbar gemacht hätten.

Das hat sich jetzt geändert. Der "wahre" Brockhaus mit seinen über 17.500 Seiten und über 26 Millionen Wörtern ist jetzt endlich auch "digital" zu haben, auf zwei CD-Roms - für Leute, die wenig Platz, aber zumindest Geld haben: Denn seltsamerweise kosten die beiden Silberlinge fast so viel wie die broschierte Studienausgabe, 990 Euro nämlich. Das erscheint, auch angesichts der eher geringen Herstellungskosten von CD-Rom-Anwendungen, überzogen. Gänzlich unverständlich ist aber, wieso in diesem Preis nicht auch das "Multimedia-Ergänzungspaket", eine DVD mit 250 Videos, 13 Stunden Ton, Aktivfotos, Hörbeispielen usw., inbegriffen ist - nein, wer darauf nicht verzichten will, muss nochmals 99 Euro extra hinblättern. Die Begründung des Verlags: "Die Ansprüche an ein elektronisches Nachschlagewerk sind sehr verschieden - die einen fühlen sich durch multimediale Elemente beim Arbeiten eher gestört, für die anderen gehören sie unbedingt zum neuen Medium dazu. Deshalb bieten wir die Brockhaus Enzyklopädie digital in zwei Teilen an. Die reine Text-Bild-Version [...] und das Medienpaket als Ergänzung für alle, die es gern lebendiger haben." Vergleicht man dieses Ergänzungspaket mit der aktuellen Ausgabe des "Brockhaus multimedial premium", sieht man, dass die Inhalte dieses Paketes einfach von der Premiumausgabe übernommen wurden. Was nicht weiter schlimm wäre, würde der "Brockhaus multimedial premium", ein komplettes Lexikon, das an Wörtern und Artikeln knapp halb so umfangreich ist wie der große Brockhaus "digital", nicht genauso viel kosten wie das Ergänzungspaket, nämlich 99,95 Euro - und damit nur rund ein Zehntel von dem, was der "Brockhaus digital" ohne alle Videos und Interaktivitäten kosten soll. Dass der Verlag für sein Multimediaergänzungspaket ursprünglich sogar 360 Teuro als Preis angekündigt hatte, lässt vermuten, dass die Verantwortlichen aufgrund dieser Preispolitik kaum Verkaufschancen für ihr Produkt gesehen haben.

Nicht unproblematisch ist der Kopierschutz: Die Anwendung muss nämlich erst über Internet oder Telefon freigeschaltet werden. Dass die Hersteller alles versuchen, um Mehrfachinstallationen zu verunmöglichen, ist verständlich; die (freilich schon immer unerlaubte) Option, die Anwendung zusätzlich noch auf dem eigenen Laptop zu installieren, ist damit ebenfalls passé. Wer möchte aber nochmal so viel Geld hinlegen, nur damit er auch unterwegs im Brockhaus nachschlagen kann? Problematischer dürfte durch diese Art Kopierschutz auch das Versteigern oder Weiterverkaufen eines erworbenen Exemplars werden. Auf Nachfrage bei der Pressestelle hieß es dazu: "Bei einem Verkauf eines gebrauchten Exemplars wird eine Installation beim neuen Nutzer in der Regel möglich sein, wenn der Käufer den Kaufnachweis erbringt. Allerdings ist in diesen Fällen ein Anruf bei der Hotline anzuraten, um Schwierigkeiten zu vermeiden."

Die Freischaltung selbst funktioniert problemlos. Optisch gleicht der Aufbau des "digitalen" Brockhaus mit den verschiedenen Navigationsmöglichkeiten dem bewährten Design des "multimedialen". Zu den Extra-Gimmicks gehören die schon bekannte Direktsuche, computergenerierte Kontexte, so genannte Wissensnetze, 19.000 kommentierte Web-Links, die (offenbar unbefristete) Möglichkeit zu monatlichen Online-Aktualisierungen sowie ein bis Ende 2003 garantierter Zugriff auf die zwei Millionen Bilder aus allen Themenbereichen umfassende Bilderdatenbank der dpa.

Inhaltlich hat der "Brockhaus digital" zweifellos mehr zu bieten als alle anderen elektronischen Nachschlagewerke; enthalten die 24 Bände doch 260.000 Artikel mit 333.000 Stichwörtern, 16.000 Fotos und Illustrationen und vielen Quellen- und Zusatztexten. Hinzu kommt noch das bereits seit dem "Brockhaus multimedial 2002" bekannte digitalisierte "Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon" aus dem Jahr 1906, das aufgrund seiner buchkünstlerischen Gestaltung als "Jugendstillexikon" in die Verlagsgeschichte einging. Das virtuelle Stöbern in den mehr als 80.000 Artikeln von anno Tobak ist ein Spaß besonderer Art, auch weil die beinah 100-jährige Wissenssubstanz intern vernetzt wurde und sich so Wissensnetze erzeugen lassen wie im aktuellen Lexikon.

Womit wir beim heiklen Punkt wären: Denn wie aktuell ist denn die digitalisierte Version des "großen" Brockhaus? Schließlich sind die 24 Bände, die die 20. Auflage darstellen, in den Jahren 1996 bis 1999 erschienen. Für den Test, durchgeführt am 6. Dezember 2002, wurde nach der Installation zunächst die Online-Aktualisierung ausgeführt. Bei der Gelegenheit: In Sachen Online-Aktualisierung glänzt Brockhaus erfahrungsgemäß im Vergleich mit der Redmonder bzw. Münchener Konkurrenz durch Zuverlässigkeit: Pünktlich zur Monatsmitte kann man sein Lexikon auf den neuesten Stand bringen; bei der Encarta muss man schon mal ein, zwei Wochen länger warten; auch wenn einen die Encarta selbst ständig großmäulig-nervig an das Vorhandensein eines Updates erinnert.

Die nach der Aktualisierung durchgeführten Stichproben präsentierten ein überwiegend positives Ergebnis: Anfang Dezember weiß der "Brockhaus digital" bereits, dass Wolfgang Clement nicht mehr nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, sondern seit Oktober Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit ist. Ebenso unterrichtet ist er vom Literaturnobelpreis für Imre Kertész und vom Tod Siegfried Unselds am 26. Oktober. Christa Wolf hat ihre Erzählung "Leibhaftig" veröffentlicht, Günter Grass seine Novelle "Im Krebsgang", Marcel Reich-Ranicki seine Studien über polnische Literatur "Erst leben, dann spielen" - nicht aber Monika Maron ihren Roman "Endmoränen". Dafür durfte Boris Becker vor Gericht mit einem blauen Auge davon kommen; sogar die brandaktuelle Becker-Biographie von Fred Sellin wird vermerkt. Auch andere wichtige Daten und Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit werden berücksichtigt, wobei es scheint, als habe die Redaktion einfach die entsprechenden aktuellen Einträge aus dem "Brockhaus multimedial" übernommen: das WTC-Attentat natürlich (auch "Ground Zero" hat einen Eintrag) oder den Harry-Potter-Boom. Vergesslich zeigt sich das Brockhaus-Gedächtnis dagegen bei Highlights der Pop-Kultur, deren Hype schon etwas zurückliegt: Vergeblich sucht man dagegen Einträge zu "Big Brother" oder zu "Akte X" (die "Simpsons" finden sich zumindest unter dem Stichwort "Kinderfernsehen"; ob sie da hingehören, steht freilich auf einem anderen Blatt); die Schauspielerin Gillian Anderson findet man im "Brockhaus digital" nicht; dafür aber im "Brockhaus multimedial". Sollte letzterer gegenüber seinem zehnmal teureren, doppelt so umfangreichen "Großen Bruder" sogar Vorteile haben? Tatsächlich: Wer im "multimedial" beim Eintrag "Big Brother is watching you" aufs Wissensnetz klickt, landet immerhin bei "Container" und "Reality-TV"; im "digital" dagegen nur bei "Pol Pot" und "Mais" (?). Auch ist der Eintrag "Reality-TV" im "multimedial" etwa dreimal so lang wie im "digital".

Zu den Lücken, die sich beide leisten, gehören Artikel etwa über den Bamberger Kognitionspsychologen Dietrich Dörner (wie er in der Encarta längst zu finden ist) oder über den Freud-Schüler und Sexualrevolutionär Otto Gross (von dem die Encarta auch nichts wissen will). Auch dass der Brockhaus unter "Löffler" nur den "Gewöhnlichen Löffler", den Löffelreiher nämlich, kennt, nicht aber die gleichnamige Literaturkritikerin, ist ein wenig peinlich. (Dass sie auch die Encarta noch nicht zur Kenntnis genommen hat, tröstet wenig.)

Wenig überzeugend ist die Auswahl der 123 Videos, von denen viele aus ARD-Nachrichtensendungen stammen. Sie lassen den Benutzer der Unterzeichnung der Absichtserklärung der Rechtschreibreform 1996 genauso beiwohnen wie der Verkündung der Ergebnisse der Wahl zur Schweizer Bundesversammlung 1999 - sind das so wichtige Ereignisse, dass man sie als Video präsentieren muss? Filmmaterial zum Ersten oder Zweiten Weltkrieg sucht man dagegen vergebens, wenn man von der Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag der Kapitulation und dem Treffen Johannes Raus mit dem polnischen Staatspräsidenten 1999 absieht. Ziehen wir ein Fazit: So angenehm und begrüßenswert es ist, endlich auch im großen Brockhaus digital stöbern zu können, im Vergleich mit dem nur ein Zehntel kostenden "Brockhaus multimedial" ist er zu teuer.

Titelbild

Brockhaus. Die Enzyklopädie digital.
Bibliographisches Institut, Mannheim 2003.
2 CD Roms, 990,00 EUR.
ISBN-10: 3765393770

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Titelbild

Brockhaus. Die Enzyklopädie digital: Medienpaket.
Bibliographisches Institut, Mannheim 2003.
1 DVD, 999,00 EUR.
ISBN-10: 3765393800

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