Ein australischer Mythos

Peter Careys Roman "Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang"

Von Fabienne QuennetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabienne Quennet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Carey ist wohl zu Recht der bekannteste Autor Australiens, der bereits zweimal den renommierten Booker Prize gewonnen hat - mit seinem Roman "Oscar und Lucinda" (1988) und jetzt mit seinem neuesten Roman "Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang". Andere seiner insgesamt sieben Romane konnten australische Preise wie den Commonwealth Writers Prize und den Miles Franklin Award gewinnen.

Peter Careys Roman ist eine fiktive Autobiographie des australischen Volkshelden Ned Kelly, der 1880 im Alter von 26 Jahren für seine Verbrechen, u. a. Polizistenmord und Bankraub, in Melbourne am Galgen starb. Während die Legende Ned Kelly außerhalb Australiens kaum bekannt war, ist Kellys anhaltende Popularität im Land immer noch sehr groß, was schon an den vielen Biographien, Theaterstücken, Filmen, Bildern und einer Fernsehserie (sowie unzähligen Internetseiten, inklusive der offiziellen Ned Kelly-Seite, www.ironoutlaw.com) über ihn und seine Bande ersichtlich wird. Careys eigene Kindheit ist von den legendären Geschichten um Ned Kelly und seiner Bande geprägt, zudem kannte sein Großvater den Lehrer Thomas Curnow, der Ned und seine Bande an die Polizei verriet. Mit Mitte 20 liest Peter Carey Ned Kellys "Jerilderie Brief", den der verfolgte Kelly 1879 dem Bandenmitglied Joe Byrne diktierte und an einen einflussreichen Politiker sandte, um ihm zu erklären, warum die Anschuldigungen falsch seien. Diese Lektüre hat Carey nach eigenen Aussagen zusätzlich dazu inspiriert, den Roman "Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang" zu schreiben; damit ist der nationale Mythos jetzt auch international bekannt geworden.

Australische Literatur beginnt 1830 mit der Sträflingserzählung von Henry Savery, eines verurteilten Betrügers und Schuldners, dessen autobiographische Erzählung mit dem Titel "Quintus Servinton, a Tale Founded upon Incidents of Red Occurence" von einem englischen Geschäftsmann handelt, der als Gefangener nach Australien transportiert wird. Das Sträflingsthema bzw. das Gefängnisthema beeinflußt die australische Literatur bis heute, was angesichts der historischen und kulturellen Bedeutung der Siedlungsgeschichte Australiens nicht verwundert: Bis 1877, als die letzte Strafkolonie geschlossen wurde, waren 160.000 Männer, Frauen und Kinder, die als Straftäter verschiedenster Verbrechen verurteilt waren, nach Australien gesandt worden. Unter ihnen eine große Gruppe von Iren, die schon seit je her als Sündenböcke der Engländer herhalten mussten. Am Ende der sozialen Hierarchie, von Polizei und anderen englischen Sträflingen verfolgt, fristete ein Großteil der irischen Bevölkerung ein Leben als "Squatter", als verarmte Farmer. Dies war ein System und ein Gesetz ("Land Act of 1862"), durch das man auf Schuldenbasis ein Stück Boden erwerben konnte, das als Ackerland weitestgehend unbrauchbar war. In diesem Kontext wächst die irische Familie Ned Kellys auf: Von den Engländern unterdrückt und gedemütigt, verschuldet und verarmt, weil das Land keinen Ertrag bringt, in die Illegalität gedrängt, verkauft Neds Mutter selbstgebrannten Schnaps und lässt sich von zwielichtigen Gestalten hofieren und aushalten. Einer davon, Harry Power, ist ein berüchtigter "Bushranger", bei dem Ned in die Lehre gehen soll.

In Form eines Briefes an seine Tochter, die Ned Kelly nie gekannt hat, ist das fiktive Tagebuch Kellys in verschiedene Päckchen von Papierbögen unterteilt, die jeweils etwa ein Jahr seines Lebens nachzeichnen, beginnend mit dem ersten Päckchen, in dem der Ich-Erzähler Ned Kelly sein Leben bis zum zwölften Lebensjahr beschreibt. Er verspricht seiner Tochter, dass keine einzige Lüge in der wahren Geschichte seines Lebens beinhaltet sei. Die Ironie dieser Aussage steckt schon in Careys Titel: Die wahre Geschichte gibt es nicht und auch Ned Kellys Aufzeichnungen sind innerhalb der fiktiven Welt nur die begrenzte, subjektive Perspektive eines eigentlich ungebildeten 'Hinterwäldlers'. Die Sprache, die der Autor Ned Kelly in den Mund legt, zeugt auf der einen Seite von dieser Beschränktheit und wirkt daher authentisch: Er schreibt Zahlen nie aus, direkte Rede wird nicht durch Anführungsstriche sichtbar gemacht, und er verwendet keine Kommata. Auf der anderen Seite scheint Ned über sich hinaus zu wachsen als er den "Jerilderie Brief" schreibt und sich selbst als Autor der Tagebücher thematisiert.

Ned Kellys Stimme ist eher emotions- und gewissenslos, selbst wenn er zugibt Angst zu haben. Seine Verbrechen beschreibt er fast ausnahmslos ohne große Emotion, insbesondere die Morde am Stringybark Creek (neuntes Päckchen). Nachdem er einem sterbenden Polizisten den Gnadenschuss verpasst hat, lautet sein eher lakonischer Kommentar "An diesem Tag des Grauens als die Schatten der Akazien von Menschenblut klebten konnte ich mir nicht vorstellen dass ich je noch was Schönes erleben würde". Mehr erfährt man nicht über sein Innenleben nach den furchtbaren Ereignissen. Die tiefsten Gefühle, die Ned plagen, sind nicht Schuld, Wut oder Angst, sondern die fast ödipale und unterwürfige Liebe zu seiner Mutter, für die er alles tut. Sein kleiner Bruder Dan erkennt schnell, dass Ned in seine Ma verknallt ist: "Mama is dein Liebchen". Diese Mutter-Sohn-Beziehung steht im starken Kontrast zu dem Bild von Ned Kelly als "Bushranger", der sich zum Schluss in eine Eisenrüstung steckt, vermeintlich unverletzbar, den aber dennoch ein Schuss in sein unbedecktes Bein trifft und niederstreckt.

Peter Carey tut alles, um als Autor hinter dem Ich-Erzähler zu verschwinden - er versucht die Leser zu überzeugen, dass sie wahre historische Dokumente lesen. Careys Kelly betont jedoch immer wieder seine Rolle als Autor und damit die ambivalenten Eigenschaften von Autobiographie. Zuallererst schreibt er für seine unbekannte Tochter, doch die persönliche Motivation wandelt sich in eine öffentliche, als Kelly bekannt und berüchtigt wird. Er beginnt für eine größere Öffentlichkeit zu schreiben, die er davon überzeugen will, dass die Anschuldigungen falsch sind und er kein herkömmlicher Verbrecher ist. Nach den Morden am Stringybark Creek postuliert Ned Kelly kühn, "von nun an würden wir unsere verflixte Geschichte selber schreiben". Es ist aber nicht Geschichte im Sinne von historischen Dokumenten, sondern die Gegengeschichte zu den offiziellen Berichten über die Verbrechen seiner Gang; eine sowohl subversive wie auch subjektive Geschichte.

Der australische Begriff "Bushranger", der eigentlich einen entkommenen Sträfling bezeichnet, später jedoch für jede Art von bewaffnetem Raubüberfall benutzt wurde, bezeichnet die Figur eines Gesetzlosen. Im Falle Ned Kellys ist der Gesetzlose nicht nur jemand, der Verbrechen verübt, sondern durch seine Taten - als eine Art australischer Robin Hood - auch auf wirtschaftliche Mißstände und soziale Ungerechtigkeiten hinweist. Peter Carey stellt Ned Kelly bewusst in diese Tradition, denn seine Interpretation von Kelly beruht auf der moralischen Frage nach Schuld: Ist Kelly ein "Bushranger", ein Verbrecher, oder das Opfer eines brutalen wirtschaftlichen Systems und der Unterdrückung, welches das Recht hat, sich mit seinen (jeden) Mitteln zu wehren? Careys Ich-Erzähler spricht davon, dass viele Australier auf seiner Seite waren, weil der Terror des unbeugsamen Gesetzes als historische Erinnerung von Ungerechtigkeit in ihrem Blut floss. Der Opferrhetorik, die darauf basiert, keine andere Wahl gehabt zu haben, als gegen die Ungerechtigkeit zurück zu schlagen, verfällt auch der Autor. Er zeichnet die Anfänge von Kellys Verbrecherlaufbahn als eine von Armut, Scham und Verfolgung durch korrupte Gesetzeshüter geprägte Kindheit; ergo: erst die schlechten Lebensbedingungen und äußeren Bedingungen lassen aus einem unschuldigen Jungen einen Kriminellen werden (nicht ohne das Zutun seiner eigenen selbstsüchtigen Mutter, die ihn bei Harry Power in die Lehre schickt).

Im Gegenteil zu Michael Ondaatjes "Die gesammelten Werke von Billy the Kid" (1970), der ganz ähnlich wie Peter Carey die Legende eines gesetzlosen Helden rekonstruiert, dabei aber den Mythos und seine Entstehung in den Mittelpunkt stellt und ihn durch die Collage verschiedener Texte demystifiziert, strickt Peter Carey größtenteils am Mythos Ned Kelly mit, vor allem dadurch, dass er ihm eine Stimme und ein Selbst gibt, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Erst im letzten Teil, beginnend mit dem zehnten Päckchen, betitelt "Wie es anfing Geschichte zu werden", setzt Carey mit verschiedenen Zeitungsausschnitten über die Kelly Gang, zum Beispiel aus "The Morning Chronicle" und der "Jerilderie Gazette", einen Kontrapunkt und ein Korrektiv zu Kellys bis dahin dominanter und oft auch selbstgerechter Stimme. Die zwei Versionen einer Legende machen es jedoch unmöglich, den "wahren" Kelly kennenzulernen.

Am Ende des Romans, der zugleich das Ende des Lebens von Ned Kelly ist, fragt sich Thomas Curnow, der verkrüppelte Lehrer, dem Ned Kelly während der Belagerung von Glenrowan seine beschriebenen Briefbögen zur Veröffentlichung anvertraut und der ihn dennoch an die Polizei verrät, was eigentlich mit den Australiern los sei: "Können wir denn keinen Besseren als einen Pferdedieb und Mörder finden, den wir bewundern?" Carey hat diese Frage mit seinem Roman verneint, und Ned Kelly bleibt der Stolz Australiens.

Titelbild

Peter Carey: Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang.
Übersetzt aus dem Englischen von Regina Rawlinson u. Angela Schumitz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
448 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3100102258

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