Pathologie de Begehrens

Gabriele Scherers "Bis das der Tod euch scheidet ..." Leib-seelische Fügungen um 1800

Von Aline WillekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Aline Willeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mann und Frau, Leib und Seele - vier Begriffe, die eines verbindet: die Liebe. Gabriele Scherers "Bis daß der Tod euch scheidet ..." beleuchtet den Zusammenhang von Leib und Seele in Liebesgeschichten um 1800. Das Ereignis der Liebe bricht in die Lebenswelten der literarischen Figuren ein und bringt sie nicht nur emotional, sondern besonders auch körperlich aus der Fassung. Die zwölf ausgewählten Werke sind daher im doppelten Sinne als Passionsgeschichten, Leidenschafts- und (säkularisierte) Leidensgeschichten, zu verstehen.

Der Blick der Autorin richtet sich vor allem auf geschlechtsspezifische Strategien der Bewältigung von Liebeserfahrungen. Die literarischen Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit der Goethezeit liest sie dabei als "Antwort auf das Bedürfnis nach symbolischer Neuordnung und mythischer Recodierung einer Welt, die durch die Säkularisierung im Zuge der Reformation nicht nur an Heilszuversicht, sondern angesichts im Wandel begriffener sozialer, ökonomischer und politischer Strukturen am Ausgang des 18. Jahrhunderts auch an Übersichtlichkeit verloren hat." Das Heilsversprechen hat sich in der industriellen Gesellschaft von dem religiösen Kontext auf den sexuellen Bereich verlagert. In diesem Sinne entstanden zahlreiche anthropologische Studien mit dem strategischen Ziel, ein für allemal Ordnung in das Geschlechterverhältnis zu bringen. Dazu wurden universelle Geschlechtscharaktere festgeschrieben, die den (heterosexuellen) Mann grundsätzlich als Normalfall und das Weibliche als Metapher für das "Andere" und pathologischen Sonderfall einordneten. So entwickelte sich eine vermeintlich naturwissenschaftlich-biologisch begründete Hierarchisierung der Geschlechter, in der Frauen als krankhafte Körperwesen den Männern als vernünftige Individuen mit Prototypcharakter untergeordnet wurden. Die bürgerliche Ordnung der Geschlechter entsprach folglich dem Leitbild: "Der Mann soll über das Weib herrschen wie die Seele über den Leib" (Theodor Gottlieb von Hippel 1774 in seinem Traktat "Über die Ehe").

Gabriele Scherers Lektüren von Christian Heinrich Spieß' "Biographien der Wahnsinnigen", Johann Wolfgang von Goethes "Die Leiden des jungen Werthers", "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und "Die Wahlverwandtschaften" , Jakob Friedrich Abels "Beitrag zur Geschichte der Liebe aus einer Sammlung von Briefen", Sophie von La Roches "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" und "Geschichte von Miss Lony", Jean Pauls "Die unsichtbare Loge" und "Titan", Fanny Tarnows "Natalie. Ein Beitrag zur Geschichte des weiblichen Herzens", Johanna Schopenhauers "Gabriele", sowie Therese Hubers "Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz" beobachten u.a., wie der liebeskranke Körper bis auf wenige Ausnahmen in weiblicher Gestalt beschrieben wird und die medizinisch-philosophisch festgeschriebene Geschlechterordnung widergespiegelt wird.

Die Autorin führt die Leser mit einer klaren Struktur und leitenden Zitaten aus Lichtenbergs Sudelbüchern durch ihr komplexes Werk, dessen zwölf Lektüren aufdecken, wie Geschlechtsidentitäten fiktiv und naturwissenschaftlich konstruiert wurden und so die bürgerliche Hierarchie von Mann und Frau festlegten - bis dass der Tod sie scheidet ...

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Gabriela Scherer: Bis daß der Tod euch scheidet... Leib-seelische Fügungen in Liebesgeschichten um 1800.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2002.
247 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-10: 3895283614

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