Kein Mensch, Niemand

Niklas Luhmann dekonstruiert das Objekt der Erziehung

Von Thomas KrummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Krumm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während sich klassische Erziehungstheorien der Erziehung des Menschen, gar humanistischer Bildung und Erziehung verpflichtet fühlen, stellt Luhmann die Frage, wie das zu begreifen ist, was gemeinhin als Mensch bezeichnet und als der Erziehung vorgegeben angesehen wird. Damit stellt sich das Problem, wer erzogen wird und wer erzieht, auf ganz neue Art. Das systemtheoretische Anliegen ist nun, die Funktion der Erziehung vom Menschen abzulösen und auf die Gesellschaft zu beziehen. Erziehung wird als gesellschaftliches Funktionssystem mit der Aufgabe der intentionalen Veränderung von Personen (als Prämissen für Kommunikation) gesehen.

Die Argumentation mit dem "Menschen" wird auf ihre ideologischen und kompensatorischen Funktionen hin abgeklopft. Erst die Systemtheorie nehme den Menschen wirklich ernst, weil sie ihn nicht zum Partikel von Gesellschaft mache, sondern ihm in der Umwelt sozialer Systeme einen autonomen Status gebe. Man kann immer nur die Außenseite eines Anderen beobachten und ist durch die Innen/Außen-Form dann veranlasst, auf eine unbeobachtbare Innenseite zu schließen. Weil das Innere des Anderen aber intransparent bleibt, ist es als ewiges Rätsel attraktiv für immer neue Verstehensanläufe. Die Systemtheorie warnt nun davor, die Innenseite als das "Eigentliche" und die "Außenseite" als ein durch das Soziale erzwungenes, den Menschen potenziell manipulierendes und deformierendes Benehmen zu betrachten, dem es frühzeitig mit erzieherischen Methoden entgegenzuwirken gelte.

Die systemtheoretische Analyse setzt sogleich bizarr an: Nachdem Seele und Geist entsorgt sind, wird der Mensch als "Gesamtsystem" in eine biochemische, mikrophysikalische, psychische und soziale Ebene dekomponiert und als die andere, unmarkierte Seite der Form einer Person in die Umwelt sozialer Systeme verschoben. Personen selbst sind dagegen als Adressen, Zurechnungspunkte für die Fortsetzung von Kommunikation unentbehrlich, ja sie "fallen gleichsam als Nebenprodukte an". Während Menschen geboren werden, entstehen Personen durch Sozialisation und Erziehung. Personen, nicht Menschen sind Gegenstand der Erziehung. Was immer der Mensch auch sei, für soziale Systeme wird er nur in der Form der Person relevant.

Die Funktion von Sozialisation und Erziehung wird so auf die Genesis von Personalität, der "Erzeugung personaler Verhaltensprämissen" bezogen. Der Unterschied zwischen Erziehung und Sozialisation ist dann darin zu sehen, dass letztere quasi zufällig und ohne Absicht durch Handlung und Nachahmung geschieht, während erstere sich durch die Absicht zur Erziehung von Sozialisation unterscheidet. Die "Absicht-zu-erziehen" wird zum Geltungssymbol erzieherischer Kommunikation erhoben, an ihr kann Erziehung sich als Erziehung erkennen und zugleich die Einheit des Erziehungssystems symbolisieren, an sie können die "guten Absichten" des Erziehers anschließen, mit deren Hilfe man korrigieren will, "was die Sozialisation beschert" hat. Dies geschieht häufig auch im "Interaktionssystem Unterricht", wobei zugleich die starke Interaktionsbasiertheit des Erziehungssystems auffällt.

Ausnahmen und Grenzgänger wie Fernuniversitäten bestätigen die Regel, vermitteln sie doch eher Bildung als Erziehung: Bildung ist ein Angebot, Erziehung eine Zumutung. Während mit "Bildung" noch ein Kandidat für die Theoriestelle "Kontingenzformel" gefunden ist, kommen die luhmannschen "Erfolgsmedien", die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien im Erziehungssystem (und übrigens auch in der Medizin) nicht zum Zuge, was Luhmann überraschenderweise dadurch erklärt, dass es in diesen Systemen nicht um "glattflüssige" Kommunikation, um erfolgreiches Überwinden von Akzeptanzschwierigkeiten der Kommunikation geht, sondern um die "Änderung der Menschen, die erzogen werden sollen".

Kein Zweifel, die luhmannsche Systemtheorie stellt sämtliche "humanistischen" Verfahren bis hin zum Rekurs auf das "Menschliche", auf die Innenseite als das Eigentliche in erziehungswissenschaftlicher, politischer u. ä. Theorie und Rhetorik unter erheblichen Begründungsdruck. Die Dekonstruktion humanistischer Ideen wird dabei sehr geschickt vermarktet: Der Mensch hat in der Umwelt sozialer Systeme der Möglichkeit nach sogar mehr Freiheiten denn als Bestandteil dieser Systeme. Gelegentlich werden dann sogar Randbemerkungen Luhmanns über Elend und Exklusion in brasilianischen Favelas als "humanistische Wende" gefeiert: Seht her, doch noch ein Funken Mitgefühl!

Die seitenfüllenden Explikationen des systemtheoretischen Jargons, also der "Brille", durch die beobachtet wird, sollen das Buch auch als Einzelnes lesbar machen, wirken auf den mit der Theorie vertrauten Leser aber enervierend und auf den damit nicht vertrauten Leser vermutlich abschreckend. Wie an einem verhangenen Himmel ziehen immer wieder bizarre Wolkenformationen geschlossener Theorieblöcke vorüber. Wollte man die mäandernden Beobachtungsergüsse Luhmanns vergleichen, man käme an dem Ulysses von Joyce nicht vorbei: Ein monströser, verborgener Beobachter, ein Adlerauge hinter den Wolken, das alles sieht, aber an nichts teilnimmt. Wie ein bandwurmartiger Gedankenstrom gleiten die systemtheoretischen Beobachtungen dahin. Sie mäandern, gleichförmig, monoton, mit sich selbst identisch wie ein System mit dem anderen, sich aber doch nie wiederholend. Nach dem Recht der Gesellschaft, der Wirtschaft der Gesellschaft, der Wissenschaft der Gesellschaft, den Massenmedien und der Kunst der Gesellschaft, der Politik und der Religion der Gesellschaft nun als vorläufig letzte Hinterlassenschaft die Erziehung der Gesellschaft. Man gewinnt bei diesem monadenhaften Mäandern den Eindruck, die systemtheoretische Kommunikation macht bei ihrer Vermehrung vor nichts halt, sie frisst regelrecht alles mit ihrem teilnahmslosen Blick auf. Sie schreckt vor keinem Schrecken zurück. Sie ist längst unsterblich und doch noch ein Kind. Sie ist in der Art, wie sie in den Systemmonographien gehandhabt wird, monströse Kommunikation.

Wie der Ulysses, der die joyceschen Gestalten des 16. Juni 1904 alle denkt, nirgendwo erscheint, so erscheint auch nirgendwo das Subjekt, das die Systeme alle denkt. Es ist, als ob sich das die Systeme vorstellende Subjekt in die zahllosen Oberflächen der Theorie aufgelöst hätte. Wie "Niemand" den Traum des Ulysses träumt, ohne Anfang und Ende, so fliegt auch "Niemand" den Wolkenflug der Systemtheorie, ohne Start und Landung, scheinbar ewig kreisend zwischen Intransparenz und Verstehen. Das menschliche Substrat ist bis ins Chaotische entmenschlicht, zum "unmarked state" eingeschmolzen, ohne doch die Möglichkeit des Menschen verneinen zu können.

Titelbild

Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
236 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3518583204

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