Verlorene, gewonnene Deutschheit

Karl Otto Conrady lässt die Wörter treiben

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kölner Universitätsprofessor Karl Otto Conrady, Jahrgang 1926, ist ein Großmeister seines Faches und als Literaturwissenschaftler eine Ausnahmeerscheinung. Denn mit seinem Namen verbindet man die bedeutendste deutsche Lyrikanthologie nach 1945, "Das große deutsche Gedichtbuch" (1977; erneut 1991), ein Standardwerk für jeden literarisch interessierten Zeitgenossen, heute schlicht und einfach und zutreffend "Der neue Conrady" genannt und im Verlag Artemis & Winkler lieferbar.

Eine bedeutende Figur der Nachkriegsgermanistik ist er nicht zuletzt auch aufgrund seiner wichtigen zweibändigen Goethe-Biographie (1982, bzw. 1985), seiner Darstellung der völkisch-nationalen Germanistik (1990) und seiner Anthologie zur deutsch-deutschen Wende: "Von einem Land und vom andern" (1993).

Aber noch etwas Drittes macht ihn zur herausragenden Gestalt: Die stete Bereitschaft zum spielerischen, zum produktiven Umgang mit Literatur. Sie schlägt sich in seinem Insel-Buch "Goethe was here" (1995) ebenso nieder wie in seinem neuesten Gedichtband "Wörtertreiben". Wem die Dichtung "Ansprache ans Leben" bedeutet, und nicht bloß "Füllwerk" für Mußestunden, in dem erweckt sie über kurz oder lang das Bedürfnis nach eigener Produktivität:

Ansprache ans Leben, mit Füllwerk

Also will ich
Liebe Freunde
Irgendwie auch einmal
Dieses Leben
Sozusagen
Hoch erheben
Denk ich mal
Zum Einzigen vielleicht
Das wir besitzen
Bloß auf Zeit
Und das wir
Sozusagen
Auch beschützen
Mit den Feierworten [...].

So beginnt ein langes Gedicht in diesem Band, und ist man ans Ende gelangt, so hat sich ein überraschender Effekt eingestellt: Man weiß nicht mehr, was Substanz, was Füllwerk ist. Anders ausgedrückt: Das Füllwerk bildet auch das, was sich sonst vielleicht zur Substanz rechnen ließe, zur Phrase um, es schafft ihr eine Umgebung, in der es gar nichts anderes mehr geben kann als das Talmi der Rede. Im Ergebnis aber, und das ist das eigentlich Überraschende, ist das Gedicht insgesamt alles andere als Phrase: Es ist absichtsvoll gebaut, es ist durchsichtig und klar, und daraus entfaltet es seine Wirkung, seinen Sog:

Im übrigen
Weiß sozusagen
Niemand
Was danach sein wird
Hinter der Wand
Mit dem Menetekel
Sozusagen verhängt
Aber frei von Sorgen
Ich denke mal
Ein ewiger Morgen.

Für die meisten der sparsam gesetzten Endreimwörter des Gedichts braucht man ein relativ langes Gedächtnis - so weit stehen sie auseinander. Am Ende folgt Morgen auf Sorgen mit Zeilenabstand: frei von Sorgen ist der, der hier spricht, und der sich von Heilsversprechen nicht mehr beeindrucken lässt:

Tod

Dann wird nur Stille sein und endlich
Das Nichts dir Raum und Zeiten schenken.
Kein Glaube mehr verstört dein Denken
Mit Jenseitslicht und blendet dich.

Wer die Gedichte (auto-)biographisch liest, mag hier an ein fast heiteres Abschiednehmen denken, an eine gelassene Bilanz der eigenen Fehler, Versäumnisse und Irrtümer, an eine Rückschau, wie sie nur dem gelingt, dem das Leben gelungen ist. Noch hält es unbekannte Fragen und "Aufschwünge" für ihn bereit:

Und doch jeden Morgen Hoffnung geweckt
Im Nebel am Saum der Nacht
Lichtstreifen ins Arbeitszimmer gestreckt
Als würde Zukunft lautlos hereingebracht.

Nur 15 Silben hat das kürzeste Gedicht der Sammlung, "Nach dem Tod", die Ewigkeit in einer Nussschale:

In der Asche
Der Urne
Verbranntes Gedenken
Auf Zeit.

Conradys Band kennt viele Anlässe: Ein Gedicht bietet uns einen Schnelldurchgang durch Goethes Leben ("Wandlungen eines J. W. G."), ein anderes besucht Kleists Grab, "Mono-Dialoge" parodieren, paraphrasieren, kommentieren Klassiker deutscher Dichtkunst von Joseph von Eichendorff ("Mondnacht") über Hölderlin ("Der Gang aufs Land") bis hin zu Gomringer, Jandl und Theobaldy. Manchmal dient ein Gedicht als Vorwurf, manchmal nur ein Vers, bisweilen auch nur ein Wort oder ein Name. Solche Seh- und Lesefrüchte betreffen Walther von der Vogelweide und Günter Grass, Eckhard Henscheid und Peter Handke und hinterlassen neue fruchtbare Spuren: Der allseits informierte mündige Zeitgenosse meldet sich mal als Bürger, mal als Bürgerschreck zu Wort, 'moralische Gedichte' mischen sich unter politische, insbesondere 'deutsche' Gedichte.

Die eigene Geschichte, die wechselvolle Geschichte des eigenen Volkes und seiner Dichtungstradition wird von Conrady wiederholt angesprochen und aufgenommen: Er erinnert an den falschen Klang "geschundener Sprache", an das verlogene "Knattern" der Fahnen im Wind ("Alte Geräusche"), an den Holocaust, an Paul Celan ebenso wie an den Nazidichter Hans Baumann, und er zeigt uns mit Friedrich Rückert ("Verlorene Deutschheit") auf, dass wir im Verleugnen der eigenen Sprache gern über das Ziel hinausschießen.

Zu würdigen ist die schöne Ausstattung des Bandes, der saubere Prägedruck des Umschlags und der gelungene Satz, der die meisten Texte leicht und luftig über die Seiten schweben lässt. So soll es sein.

Titelbild

Karl Otto Conrady: Wörtertreiben. Gedichte.
Verlag Landpresse, Weilerswist 2002.
91 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3935221193

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch