Etikettenschwindel

Patricia Dunckers Roman "James Miranda Barry"

Von Oliver JahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gab Zeiten, da konnten Frauen nur in der Larve des anderen Geschlechts in die beruflichen Domänen des Mannes eindringen. Wo die Travestie des Weiblichen von Tootsie bis Miss Doubtfire meist zu heiteren Kostümspielchen Anlaß bot, geriet die kurzhaarige Imitation des Männlichen in Kunst und Leben von Yentl über den Jazzmusiker Billy Tipton bis hin zu einem falschen Papst bisweilen zur einzigen Möglichkeit, die zugeteilten Lebensmuster abzustreifen.

Einer solchen (authentischen) Gestalt hat sich die britische Erzählerin Patricia Duncker in ihrem zweiten Roman angenommen.Wußte sie vor zwei Jahren mit ihrer "Germanistin" auf unterhaltsame Weise zu einer Beschäftigung mit dem französischen Philosophen Michel Foucault zu verführen, verfolgen wir jetzt die turbulente Geschichte des englischen Arztes James Miranda Barry, der zum Auftakt des 19. Jahrhunderts noch als Frau auf die Welt kommt.

Die drei Liebhaber der Mutter inszenieren mit ihrem Geld und ihren Namen den Identitäts- und (äußerlichen) Geschlechtswechsel des ungewöhnlich begabten Kindes, das elfjährig bereits mit dem Medizinstudium beginnt und seine Kommilitonen fasziniert. Der nachmalige kleine rothaarige Doktor mit den kalten Händen und den kalten Augen, von dem man sagt, er rede daher wie vergilbte Folianten, gelangt in seiner Heimat und in der von Sklavenaufständen erschütterten Karibik zu Ansehen und bescheidenem Wohlstand.

In der Geschichte vom schmutzigen Kindermädchen, Barrys Jugendfreundin Alice Jones, der er einst mit Bunyans "Pilgerreise" das Lesen beigebracht hat, und die zur erfolgreichen und begehrten Shakespeare-Schauspielerin aufgestiegen ist, findet die Lebensgeschichte des zugeknöpften Arztes einen aufschlußreichen Widerpart. Zwei ganz verschieden ausgreifende weibliche Biographien im England des letzten Jahrhunderts, an deren Anfang eine folgenreiche Maskerade steht, die erst nach dem Tode Barrys aufgedeckt wird.

Anders als in ihrem Erstling vermag Duncker hier leider nicht durchweg zu fesseln. Die Studienzeit Barrys in den zugigen Anatomiesälen Edinburghs etwa hätte man sich atmosphärisch dichter gewünscht, die psychologische Zeichnung der außerordentlichen Begabung ihres Helden überzeugender. Gleichwohl ist hier eine durchaus lesenswerte Geschichte anzuzeigen, die Geschichte jenes Arztes, der Napoleon die Augen zugedrückt haben soll, damals auf St.Helena.

Titelbild

Patricia Duncker: James Miranda Barry. Aus dem Englischen von Heidi Zerning.
Berlin Verlag, Berlin 1999.
496 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3827003202

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