Liebe und Besitz

Jack Goodys nüchterne und skeptische Geschichte der Familie in Europa

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So nüchtern, skeptisch, universal gelehrt und abgeklärt ist über die Familie selten geschrieben worden. Für die von dem Historiker Jacques Le Goff herausgegebene Reihe "Europa bauen", an der sich fünf europäische Verlage beteiligen, hat der renommierte Sozialanthropologe Jack Goody aus Cambridge eine "Geschichte der Familie" verfasst, die vieles in Frage stellt, was gegenwärtig in der historischen Familienforschung an Vorstellungen verbreitet ist. Allen starken Thesen der letzten Jahrzehnte über epochale Veränderungen oder Besonderheiten der Familie begegnet dieses Alterswerk des 1919 geborenen Kulturwissenschaftlers mit Skepis, wenn nicht Verachtung. Die gegenwärtigen Diagnosen vom "Ende der Familie" sind ihm ebenso suspekt wie die verbreiteten Vorstellungen von der "modernen Kernfamilie".

"Von der Besonderheit der modernen, besonders der westlichen Familie ist viel zuviel Aufhebens gemacht worden; gewisse Merkmale dieser Familie gibt es in Wirklichkeit seit spätrömischer Zeit und auch in anderen Teilen der Welt." Mit zahllosen Bemerkungen dieser Art weist sich Goody als Typus eines Gelehrten aus, der alle Behauptungen über Neues und Singuläres in der Kulturgeschichte mit Hinweisen auf das begegnet, was vorher längst schon da war oder in anderen Kulturen ähnlich existierte. Seine Lieblingsgegner sind Mentalitätshistoriker vom Schlage eines Philippe Ariès. Dessen These, dass die Kindheit erst in der Neuzeit als eine eigene Lebensphase entdeckt wird und seit eben dieser Zeit die moderne, "affektive", auf dominant emotionalen Bindungen basierende Familie entsteht, weist Goody entschieden zurück. Liebe und Trauer seien zu allen Zeiten und auf der ganzen Erde verbreitet, "und nur krudeste Mentalitätsgeschichte in Verbindung mit einem überstarken Ethnozentrismus will etwas anderes glauben machen." Generell seien "Emotionen ein ungeeignetes Material für Historiker, die bei dem Versuch, Gefühle einzuschätzen, zahllose Fehler begehen."

Wenn das Buch dann doch konzediert, dass die romantische "Ideologie" einer auf Liebe gegründeten Ehe eine gewisse Wirksamkeit auf die Realität der Ehe- und Familienentwicklung gehabt hat, dann desillusioniert es das romantische Konzept mit Hinweisen auf die ungewollt destruktiven Effekte. "Bei der heutigen Möglichkeit finanzieller Unabhängigkeit und der stark gestiegenen Lebenserwartung, durch die eine lebenslange Ehe doppelt so lange währt wie noch im 19. Jahrhundert, ist es viel verlangt, von einer Bindung unbegrenzte Dauer zu erwarten, zumal wenn die Basis dieser Verbindung Liebe und die Freiheit der Partnerwahl sein sollen [...]. Diese Ideologie bedeutet das Ende der allgemeinen, dauerhaften Paarbildung."

In der respektlosen Destruktion sei es wissenschaftlicher oder unwissenschaftlicher Familienmythen ist Goodys Skepsis vielfach anregend, eine eigene, neue Geschichte der Familie zu erzählen, wagt er jedoch nicht - außer der, dass die Familie bei allen Wandlungen in ihren wesentlichen Merkmalen und Funktionen unverändert geblieben ist. Seit der Antike dienen die unterschiedlichen Organisationsformen der Familie, so stellt es Goody vor allem anhand juristischer Dokumente zu "Variablen" wie Mitgift, Erbschaft, Adoption oder Heiratsalter dar, vornehmlich dem gleichen Ziel: der Wahrung und Weitergabe von Besitzständen. Als das Christentum in Europa entscheidenden Einfluss auf die Familie gewann, setzte es alles daran, Familienkapital in den Schoß der Kirche zu überführen.

Von Kulturhistorikern wie Ariès unterscheidet Goody sich nicht nur in seiner ökonomischen Logik, sondern auch im Stil. Die Abhandlung nennt sich zwar "Essay", doch kühne Konstruktionen, pointierte Thesen, Freude an spekulativen Versuchen oder eleganten Formulierungen liegen ihm fern. Mit demonstrativer Professionalität mutet er seinen Lesern das fachwissenschaftliche Vokabular seiner Zunft zu. Auch dort, "wo unilineare Abstammungsgruppen wie in Rom die patrilineare gens existieren", gebe es "eine Berechung der (ambilinearen) Blutsbande über beide Elternteile". So beschreibt der Historiker eine der vier Konstanten in der Kulturgeschichte der Familie. Am Ende des Buches hilft ein Glossar, den Satz zu verstehen.

Titelbild

Jack Goody: Geschichte der Familie.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
272 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3406484395

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