Realität als System

Niklas Luhmanns Vorlesung "Einführung in die Systemtheorie"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Zeit, als die negative Einheit des Außersichseins, ist gleichfalls ein schlechthin Abstraktes, Ideelles. Sie ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist." Niklas Luhmann zitiert Hegels "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" zu Beginn seiner Vorlesungen über das Medium 'Sinn', die eng mit seinen Ausführungen über die 'Zeit' zusammenhängen. Von Hegel ausgehend stellt sich der Soziologe die Frage, weshalb in der Philosophietradition, sobald man über Zeit sprechen will, die Unterscheidung von Sein und Nichtsein getroffen wird. Offensichtlich wohl deshalb, weil Zeit "zugleich etwas ist, was ist, und etwas, was nicht ist, also noch nicht ist oder nicht mehr ist." Was aber ist der Sinn dieses "ist"? Bei Aristoteles bekommt das "ist" noch den Index "jetzt", und zwar in nominalisierter Form, als "Jetzt": Das Jetzt ist der Moment, "in dem das Nichtsein der Vergangenheit und das Nichtsein der Zukunft gleichsam identisch werden". Deutsche Aristotelesausgaben sprechen vom "Jetztpunkt".

Den Grund dafür, weshalb das Adverb "jetzt" bei Aristoteles nominalisiert wird, sieht Luhmann darin, dass das Jetzt nur in der mündlichen Rede situativ verständlich sei ("Sie wissen, was ich meine, wenn ich jetzt 'jetzt' sage, nämlich genau dann, wenn ich es sage"), während ein Jetzt im schriftlichen Text einen Moment festhalte, der quasi schon vorbei sei. Die Nominalisierung sei also ein Resultat der Schriftkultur und mache deutlich, dass die Zeit in lauter Jetzte, Jetztpunkte eingeteilt sei.

Im Wintersemester 1991/92 hielt Niklas Luhmann an der Universität Bielefeld seine Vorlesung unter dem Titel "Einführung in die Systemtheorie". Glücklich jene, die daran teilnehmen konnten, vorbei die Zeit für alle, die sie versäumt haben. Doch dann kam 1992 die Vorlesung in der Reihe "Autobahnuniversität" heraus, und man konnte sich - Trost der Technik - Luhmann im Originalton vergegenwärtigen. 'Jetzt', zehn Jahre später, liegt zusätzlich eine Transkription der Hörcassetten vor; besorgt hat sie der Soziologe Dirk Baecker, Professor an der Universität Witten-Herdecke.

Luhmann hat seine Vorlesung in zwei Komplexe geteilt: Der erste behandelt die wichtigsten Begriffe einer allgemeine Systemtheorie, wie Autopoiesis, Operative Geschlossenheit, Strukturelle Kopplung, Beobachten/Unterscheiden, Reentry oder Komplexität. Der zweite wendet diese Begriffe oder Formulierungen aus dem Bereich der allgemeinen Systemtheorie auf bestimmte Themen an, "die für die soziologische oder sozialwissenschaftliche Diskussion relevant sind", als da sind Zeit, Sinn, psychische und soziale Systeme oder Kommunikation. Luhmann hebt zunächst hervor, dass es die eine, umfassende und bestimmende Systemtheorie gar nicht gibt; dann geht er in einem historischen Exkurs auf die sehr unterschiedlichen systemtheoretischen Grundorientierungen seines Faches ein und zeigt die Grenzen und Möglichkeiten jener Ansätze auf, wie sie vor allem in den 40er und 50er Jahren entwickelt wurden. Damals ging es im wesentlichen um die Struktur- und Bestandsvoraussetzungen einer Gesellschaft, bis diese Ansätze in den 60er und 70er Jahren von einer "kritischen Gesellschaftstheorie" verdrängt wurden. Eine davon unabhängige und - wie Luhmann formuliert - "eigenartige Version von Systemtheorie" hat Talcott Parsons entwickelt. Sie lässt sich auf die Formel "Action is system" zurückführen und widerspricht der landläufigen These, dass Handlung und System nicht miteinander vereinbar wären. Die heute kaum mehr rezipierte Theorie mit ihren berühmten Kreuztabellen führte Luhmann zu einem ähnlich interdisziplinären Ansatz, der "Theorie offener Systeme".

Offenheit bedeutet Austausch mit der Umwelt, und dieser Austausch kann, je nachdem, ob es sich um organische bzw. biologische, soziale oder psychische Systeme handelt, sehr verschieden aussehen. Um diese Außenbeziehungen eines Systems zu bestimmen, haben sich mehrere Theorien, Methoden, Forschungsrichtungen angeboten, darunter die Kybernetik als der "Hoffnungsträger" auf dem Weg zur Entwicklung einer allgemeinen Systemtheorie. Deren Feedbackmodell war verallgemeinerungsfähig und fand in immer neuen Gebieten Anwendung. Für die Biologie bietet Luhmann eine Variante des Autopoiesis-Modells von Humberto Maturana an, das von der "Selbstreproduktion des Lebens" durch diejenigen Elemente ausgeht, "die im lebenden System selber produziert worden sind".

Als tragfähig erweist sich diese Theorie, wenn man versucht, das Phänomen der Individualität zu erklären. Wenn man von Autopoiesis ausgeht, so Luhmann, dann ist Sozialisation nichts anderes als Selbstsozialisation: Man stellt quasi, unter dem Primat der Wahrung und Entwicklung der eigenen Systemstrukturen, Umweltdaten in Rechnung, jedoch nicht mehr als unbedingt notwendig. Da es weder ein "kulturelles Programm" für Individualität noch eines für Intersubjektivität geben kann, darf der Fokus einer Gesellschaftstheorie nicht auf dem Subjekt liegen. Deshalb abstrahiert Luhmann radikal von Begriffen wie "Subjekt" oder "Individuum" und konzentriert sich auf die "Eigendynamik des Sozialen". Dieser Schritt richtet sich auch - implizit wie explizit - gegen Habermas und sein - wie Luhmann glaubt - wirklichkeitsfremdes Konzept der "kommunikativen Rationalität".

Dieser von Habermas als "Sozialtechnologie" denunzierte methodologische Ansatz spricht von "Selbstorganisation", weil Systeme nur mit eigenen Strukturen operieren können. Unter "Strukturen" werden dabei die "Erwartungen" in Bezug auf die "Anschlussfähigkeit" von Operationen verstanden. Im Unterschied zu älteren Stimulus-Response-Modellen wird hier nicht von einer festen Relation ausgegangen, sondern von einer pragmatischen Offenheit, die sich aus der Vorstellung "generalisierter Erwartungen" ableitet. Komplexe Systeme ("nichttriviale Maschinen") verfügen dabei über ein breiteres Repertoire von Handlungsmöglichkeiten als einfache Systeme ("triviale Maschinen"). Da Systeme nur mit selbst aufgebauten Strukturen arbeiten können, ist der Übergang von trivialen zu nichttrivialen Maschinen so wichtig: Ein komplexes System kann einfach über eine Fülle von "kommunikativen Gepflogenheiten" verfügen, während sich ein einfaches System im algorhythmischen Abarbeiten der durch das Programm festgelegten Operationen erschöpft.

Ein beeindruckendes Beispiel für 'nichttriviale Maschinen' ist der Spracherwerb bei Kindern, und zwar in und durch die Kommunikation selbst. Ungeachtet der Terminologie ist die Individualität im Sprachlernprozess extrem hoch, viel höher, als man gemeinhin unterstellt: "Nur kann man das nicht über den Import von Strukturen erklären, sondern nur über strukturelle Kopplung." Der Komplex Sprache, Spracherwerb und Sprachkompetenz spielt in diesen Vorlesungen eine gewichtige Rolle, insbesondere im Zusammenhang mit dem Phänomen der Zeit und dem Medium Sinn. Mit Benjamin L. Whorf diskutiert Luhmann die Sprachabhängigkeit des Zeitbewusstseins, mit Fritz Heider die Unterscheidung von Medium und Form ("Sätze sind Formen im Medium der Sprache").

Strukturelle Kopplung ist eines der Zauberworte der Luhmannschen Systemtheorie. Er kommt zuerst bei Humberto Maturana auf und wird von Luhmann für seine Zwecke angepasst. Unter "struktureller Kopplung" versteht er die Kopplung von System und Umwelt, die hochselektiv sein muss, damit die Autopoiesis des Systems nicht zerstört wird, das System auf Informationen reagieren und seine Strukturen gegebenenfalls anpassen kann. Strukturelle Kopplung ist die Bedingung der Möglichkeit von Bewusstsein und Kommunikation. Das hochselektive Moment von Sprache beispielsweise macht man sich deutlich, wenn man sich die Menge möglicher Frequenzen, Geräusche, Modulationen imaginiert, die ausgeschlossen sein müssen, damit jene schmale Bandbreite "artikulierter Geräusche" hörbar wird, die "als Sprache" fungieren können.

Eine zentrale Kategorie Luhmannscher Systemtheorie ist die Instanz des Beobachters, die an die Stelle des Subjekts tritt und "ganz formal definiert" ist - sie trifft Unterscheidungen und bezeichnet: "Beobachten ist das Handhaben einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite." Auf der Basis der Begriffe der (losen oder festen) "Kopplung" und der "Autopoiesis" weist der streitbare Soziologe auch die gängigen Vorstellungen über Evolution (nach Darwin) und Sozialisation (nach dem Übertragungsmodell) zurück: Die "enorme Vielfalt von Individuen" lasse sich nur dadurch erklären, dass Sozialisation im Wesentlichen Selbstsozialisation sei.

Die Leistung des Herausgebers besteht darin, die Transkription des Vorlesungsmitschnitts für die Drucklegung bereinigt zu haben. Dirk Baecker hat Leerformeln, entbehrliche Inquitformeln, Füllwörter usw. getilgt und die Syntax behutsam gestrafft, wobei er den mündlichen Duktus der Vorlesung bewahrte. Er hat dort, wo das Tonband unterbrochen war, erläuternde Übergänge geschaffen und außerdem die Literatur nachgewiesen, auf die sich Luhmann bezieht. Allzu sparsam ist sein Register ausgefallen: Wichtige Schlüsselbegriffe, vor allem solche, von denen Luhmann sich abgrenzt, fehlen hier (zum Beispiel die Begriffe des Lernens, der Organisation, der Unterscheidung) oder sind nur sehr selektiv nachgewiesen. Auf einen Namensindex wurde ganz verzichtet.

Der Bielefelder Soziologe, der 1998 starb, verstand es, seinen Vorlesungen einen hohen Unterhaltungswert zu geben, ohne die Systematik seiner Bücher aufzugeben. Auch hier präsentiert er sich als feiner Polemiker, der hohen Respekt für die Leistungen eines Humberto Maturana hat, und Spott für seinen Lieblingsgegner - Jürgen Habermas. Dieser sei längst über die Implikate seines Rationalitätsbegriffs gestolpert. Luhmann rechnet Habermas den protestbewegten Altlinken zu, die sich in den Aporien ihrer Ideologie verstrickt hätten: "Natürlich kann niemand in der Vergangenheit zurückbleiben, was heute besonders tragisch ist, denn angesichts der 68er-Generation zum Beispiel hat man das Gefühl, diese Leute wären gerne dort geblieben. Wenn sie heute auftreten, haben sie mit einer Vergangenheit zu tun, die für sie keine Vergangenheit ist. Wenn sie zusammenkommen, dann kommen sie wie ausgediente Kavalleriepferde zusammen, die noch einmal den Klang der Trompete hören wollen."

Auf diese Weise wird auch etwas von der Person Niklas Luhmann spürbar, von ihren Vorlieben, ihren Idiosynkrasien, von ihrem Humor und ihrem Selbstverständnis. In der letzten Stunde vor den Weihnachtsferien erzählt er den Studierenden von seinem Zettelkasten, der mittlerweile "ungefähr 40 Jahre alt" und zu einem "Apparat mit zigtausenden von Zetteln" angewachsen sei. Hier sei alles aufgeschrieben, was ihm interessant und "möglicherweise verwendbar" erscheine: "In diesem Kasten befindet sich ein Zettel, auf dem steht, dass alle anderen Zettel falsch sind. Das Argument, das alle Zettel widerlegt, ist somit auf einem der Zettel festgehalten. Wenn ich den Kasten jedoch aufziehe, verschwindet dieser Zettel, oder er bekommt eine andere Nummer und sucht sich einen anderen Platz."

Titelbild

Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie.
Herausgegeben von Dirk Baecker.
Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2002.
347 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3896702920

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