Zwischen "Meinungsjournalismus" und dem Einfluss der Pressestellen

Irene Preisinger und ihre Studie über das Aufgabenverständnis von Journalisten in Frankreich und Deutschland

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leben am Puls der Zeit, immer aktuell, ständig auf Informationssuche: Die Medien und der Journalismus gehören in unseren Zeiten zu einer funktionierenden Demokratie. Sei es die kritische Reflexion über Politik, die Unterhaltung der Leser durch Reportagen und zeitgeistige Apercus oder auch die boulevardeske Ausschlachtung der möglicherweise unechten Haarfarbe des Kanzlers: Journalisten informieren die Öffentlichkeit über wichtige und unwichtige Fakten der Gegenwart. So tragen sie nicht zuletzt entscheidend dazu bei, die politische Meinungs- und Willensbildung zu stärken und so die Grundvoraussetzung für eine starke, autonome Macht des Volkes zu schaffen. In der gleichen Weise, wie sich die Berichterstattung eines Landes auf seine Bevölkerung auswirkt, bezieht auch der Journalist sein Selbstverständnis und seine Leitbilder aus den politischen und gesellschaftlichen Spezifika seines Staates. Somit spiegelt die jeweilige Medienlandschaft und -ausprägung in verschiedenen Ländern mithin auch immer die gegenwärtige Lage der Gesellschaft wider.

Doch wie unterscheiden sich die Medien in verschiedenen Ländern voneinander? Was sind die Konstanten bei der Berichterstattung der Journalisten, was ihre Zielsetzungen und ihr Selbstverständnis? Was motiviert gerade momentan so viele Menschen, in den Medienberuf zu streben, obwohl Berufschancen wie Gehaltsaussichten gleichermaßen schlecht sind?

In ihrer Dissertation "Information zwischen Interpretation und Kritik. Das Berufsverständnis politischer Journalisten in Frankreich und Deutschland" ist die Münchener Journalistin Irene Preisinger diesen Fragen nachgegangen. Anhand eines Vergleiches der journalistischen Arbeitsweisen in den Nachbarländern Deutschland und Frankreich zeigt sie einerseits eindeutige Gemeinsamkeiten beider Medien, andererseits entwickelt sie empirisch durch mehr als 100 Interviews mit Verantwortlichen klare Abgrenzungstendenzen. Zu diesem Zweck befragte sie 33 deutsche Journalisten bei den Medien "Süddeutsche Zeitung", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Die Welt", "Der Spiegel" und "Die Zeit" sowie 32 Vertreter der Medien "Le Monde", "Le Figaro", "Libération", "L'Express" und "Le Nouvel Observateur".

Die Basisbedeutung und -leistung der Medien in beiden Ländern, so zeigt Preisinger auf, besteht im Informationsaustausch zwischen politischer Führung und Öffentlichkeit: "Informieren [heißt] Interpretieren, Kritisieren und Kontrollieren." Trotz dieser Gemeinsamkeit im Aufgabenverständnis links und rechts des Rheins hebt Preisinger feine und dabei doch entscheidende Nuancen und Unterschiede hervor, die in der Summe auf eine unterschiedliche zukünftige Orientierung des Journalismus in Frankreich und Deutschland verweisen. So heben die französischen Berichterstatter in stärkerem Maße als ihre deutschen Kollegen die Kritikleistung und -verpflichtung der Medien hervor. Lehnt sich der deutsche Journalismus mehr an das angelsächsische Modell an, in dem die Objektivität der Meldungen durch intensive Gegenrecherche und Ausgewogenheit der Beiträge gesichert werden soll, so beruft man sich auf französischer Seite auf die individuelle Rechtschaffenheit des Rechercheurs, die im nationalen Kodex fixiert ist. Doch auch in Frankreich sind am Ende des 20. Jahrhunderts nach einer langen Tradition des kontinentaleuropäischen Journalismus Tendenzen des angelsächsischen Typus erkennbar: Redakteure in Paris plädieren ebenso wie jene in Berlin für eine klare Trennung von Meldung und Nachricht. Dies ist in Frankreich insofern auffällig, als der französische Journalismus in höherem Maße als der deutsche auch literarisch ambitioniert erscheint: "Während beispielsweise deutsche Lehrbücher von Berufsanfängern nüchterne, trockene Präsentation fordern, geben die französischen Leitfäden angehenden Medienmachern mit auf den Weg, auch informative Texte individuell und lebendig zu verfassen." Die "sprachlich-stilistischen Vorlieben in Frankreich" führen französischen Interviewpartnern Preisingers zufolge öfter zu Kollisionen mit dem Prinzip der nüchternen Informationsvermittlung.

Generell lässt sich aus Preisingers Studie herauslesen, dass die Meinung und ihre sprachlich pfiffige Vermittlung in Frankreich eine höhere Wertschätzung genießt als in unseren Landen. Dies sei nicht nur an der Tagespresse, sondern auch an der Magazinlandschaft der Nachbarn zu beobachten: "In Frankreich [...] setzen die wöchentlichen Magazine auf besondere sprachlich-stilistische Gestaltung." In Deutschland setze man im Gegensatz dazu besonders auf der Lieferung von zusätzlichem Hintergrundmaterial, während sich die französischen Redakteure um eine Reduktion von Komplexität und deren kritische, oftmals individuelle Analyse bemühten. Diese Art des französischen "Meinungsjournalismus" sei, so Preisinger, in der Bundesrepublik oft im Manipulationsverdacht und werde deshalb mit Vorbehalten betrachtet - das angelsächsische Modell mit seiner klaren Trennung von Meldung und Meinung sei hierzulande der Hauptbezugsrahmen. Doch führe die französische Höherwertung des Subjektiven dazu, dass die Medien des Nachbarlandes noch eher als die deutschen politisch positioniert werden könnten, so Preisingers Folgerung.

Ein weiterer entscheidender Unterschied in der Arbeitsweise der Medien in Frankreich und Deutschland besteht der Studie zufolge in der unterschiedlichen Bedeutung von Pressestellen. Während letztere in Deutschland eine enorm große Bedeutung haben und nach Auskunft der deutschen Befragten die Medienmacher zu beeinflussen suchen, spielen sie in der journalistischen Recherche in Frankreich kaum eine Rolle. Dort seien es eher Politiker, gegen deren Einflussnahme sich die Journalisten wehren müssten. Gleichzeitig lehnen französische Medienschaffende die Informationsbeschaffung durch Bezahlung von Informanten vehementer ab als ihre deutschen Kollegen.

Der investigative Journalismus, so wird gezeigt, hatte in Frankreich durch die längere liberale Tradition schon früher eine große Bedeutung, während er sich in Deutschland durch die lange Zeit der fehlenden Pressefreiheit vergleichsweise langsam entwickelte.

Beiden Ländern gleich ist allerdings die Begründung der Berufswahl des Journalisten: Dort wie hier überwiegen pragmatische Elemente wie beispielsweise jenes, dass der Journalismus ein Beruf wie jeder andere und somit eine mehr oder minder rational gefällte Berufswahl sei. Doch bei ebenso vielen Befragten beider Länder gilt der Journalismus als Traumjob, der persönliche Neigungen, Vorlieben und Interessen aufs Beste vereinen und verwirklichen könne: "Die allgemeine Neugier wird gestillt, die Freude am Schreiben verwirklicht."

Irene Preisingers Studie ist in ihrer Vielfalt und Empirie eindeutig zu würdigen, weist ihr Vergleich der Arbeitsweisen und Berufsverständnisse diesseits und jenseits des Rheins doch gleichzeitig über das Feld des Empirischen hinaus. In der Tat ist die Medienlandschaft eines Landes immer auch Ausdruck der gegenwärtigen gesellschaftlichen wie politischen Situation und darüber hinaus ein Spiegel auch der historischen Herausbildung von Pressefreiheit und demokratischer Autonomie. Gerade den letzten Punkt weiß Preisinger mit ihrer Studie aufs Beste zu belegen: Indem sie Unterschiede im Selbstverständnis der Medienschaffenden beider Länder wie den unterschiedlichen Grad von Investigation und Kritik verdeutlicht, zeigt sich die Bedeutung des Journalismus für die Gesellschaft. So traten die historisch schon länger am investigativen Journalismus geschulten Medienmacher in Frankreich bereits in der Dreyfus-Affäre 1894 gesellschaftskritisch und mutig als "Gegenspieler der Mächtigen" hervor - Dreyfus wurde nach schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen 1906 begnadigt. Ein Zeichen dafür, was kritische Medien als Kontrollinstanz der Politik bewirken können.

"Die Suche nach Wahrheit, Information und Aufklärung" ist in Deutschland wie Frankreich Antriebsmoment für das Selbstverständnis der Journalisten. Eine Aufgabe, so hat Irene Preisinger gezeigt, die dort wie hier als gleichermaßen wichtig wie spannend begriffen wird.

Titelbild

Irene Preisinger: Information zwischen Interpretation und Kritik. Das Berufsverständnis politischer Journalisten in Frankreich und Deutschland.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002.
284 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-10: 3531137689

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