Ein verworrener Pfad menschlicher Interaktion

Siri Hustvedt hat mit traumwandlerischer Stilsicherheit einen fulminanten Roman geschrieben

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang ist da nur die Entfernung, aus der zwei Paare auftauchen: Leo, der Ich-Erzähler, Erica, Bill und Lucille. Nein, am Anfang steht ein Bild, das Bill gemalt hat, ein Selbstbildnis, auf dem sich der Maler als Frau darstellt. Diese Frau gibt es tatsächlich, sie heißt Violet und wird immer mehr zum Ausstrahlungszentrum des Geschehens. Die beiden Paare wohnen im gleichen Haus, sie bekommen jeweils einen Sohn. Alles scheint in Ordnung. Aber dann passiert ein Unglück und dadurch kommt das in den Blick, was unter der scheinbar idyllischen Oberfläche schlummert. Was wirklich geschieht, wissen wir nie, wie alles miteinander zusammen hängt, bleibt rätselhaft.

Zwei Romane und einen Band mit Essays hat Siri Hustvedt bisher veröffentlicht. In diesen Büchern hat sie vor allem ihr Talent zu gedanklicher und emotionaler Verdichtung bewiesen. Als atemlose Leserin empfand ich mich vor allem während der Lektüre der beiden Romane. Und erwartete die gleiche Reaktion, als ich begann, das neue Buch von Siri Hustvedt zu lesen. Aber es war anders: Als träte man ganz langsam an ein Bild heran, das noch unvollendet vor einem steht, vom Maler allein gelassen.

"Wir fabrizieren schließlich Geschichten aus den flüchtigen Sinneswahrnehmungen, von denen wir in jedem Augenblick bombardiert werden, eine bruchstückhafte Reihe von Bildern, Gesprächen, Gerüchen und der Berührung von Dingen und Menschen. Das meiste löschen wir, um in einem Anschein von Ordnung zu leben, und das Umgruppieren von Erinnerungen geht weiter, bis wir sterben."

Siri Hustvedt schreibt aus einer männlichen Perspektive und es ist beeindruckend, wie dieser Mann vor unseren den Augen Gestalt annimmt, zu einem Menschen wird, auf dessen Blick man sich einlassen muss, ob man will oder nicht. Das eigene ich entgeht einem, wenn man anderes oder andere betrachtet, aber die große Kunst von Siri Hustvedt ist es, dass sie, obwohl sie eine bestimmte Perspektive einnimmt, alle Figuren so intensiv offen legt, dass dadurch auch der Ich-Betrachter zu einer Wahrnehmung von sich selber kommt. Alle schauen aufeinander, jeder hängt mit jedem zusammen. Die Lebenswege umschlingen einander, Anziehung und Abstoßung wechseln sich ab.

Die Autorin hat ein gefährliches Buch geschrieben, eines, das einen unweigerlich in die Tiefe zieht und das eigene Leben fremd werden lässt. Und doch ist der Schauer, der über den Rücken zieht, von einer Wirkung, wie sie nur ganz große Romane haben.

Titelbild

Siri Hustvedt: Was ich liebte.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
480 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3498029711

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