Der Zeichner als Mensch

F. W. Bernstein trägt einen Schnauz und wird 65

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich wurde am in als Sohn des und der geboren. Das war 1938. Erste Zeichnungen auf jenen fenstergroßen Verdunkelungsplatten aus dünnem Sperrholz mit dem dicken Zimmermannsbleistift. Mein Vater hat mich dabei auf dem Arm getragen."

Diese Idylle aus den letzten Kriegsjahren, überschrieben mit "Der Zeichner als Mensch", bildet den Auftakt zu einem Lebenslauf der besonderen Art: F. W. Bernstein, geboren als Fritz Weigle, wird dieser Tage 65 alt - und noch immer auf Händen getragen. Dabei ist er heute lang und dünn und überlebensgroß und trägt - neben seinem Aliasnamen - einen würdigen Schnauz. Er ist (inzwischen pensionierter) Professor für Karikatur und Bildgeschichte und prägte einst das mittlerweile legendäre und vielfach variierte Wort: "Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche."

Dieses Wort wurde zur Losung der Neuen Frankfurter Schule, und F. W. Bernstein so etwas wie ihr Gründervater:

"Guter Schüler am Hohenstaufengymnasium in Göppingen - ich war schön dumm damals. Nach dem Abitur Kunstakademie in Stuttgart, später Hochschule für Bildende Künste in Berlin [...]. Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Höheren Schulen, danach wieder Berlin, HfBK und FU (Germanistik als Beifach) mit Robert Gernhardt zusammen - ich habe am meisten von ihm und mit ihm zusammen gelernt."

Man befruchtete sich gegenseitig, und auch der erste Gedichtband "Besternte Ernte" (1976) wurde gemeinsam publiziert und den Ehefrauen zugeeignet: "Deiner Frau gewidmet", heißt es lakonisch-komisch auf dem Vorsatzblatt.

Die folgenden Stationen seines bewegten Lebens sind bereits Legende - und dennoch absolut wahr: Im April 1964 trat er in die Redaktion der satirischen Monatszeitschrift "Pardon" ein, wenig später wurde - zusammen mit Robert Gernhardt und F. K. Waechter - die "Pardon"-Beilage "Welt im Spiegel" (WimS), die "unabhängige Zeitung für eine sauberereWelt", aus der Taufe gehoben und bis 1975 (!) fortgeführt. Als Krönung ihres Gemeinschaftswerkes gilt die fiktive Biographie "Die Wahrheit über Arnold Hau", 1966 erschienen und heute ein Klassiker der literarischen Hochkomik.

Privat-beruflich jedoch ging Weigle/Bernstein andere Wege als publizistisch: Im Hau-Jahr 1966 trat er in den hessischen Schuldienst ein, wurde 1972 Kunsterzieher an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen und bekam 1984 eine Professur für Karikatur und Bildgeschichte in Deutschland an der Hochschule der Künste Berlin. Die hatte er bis September 1999 inne, dabei waren sein institutioneller Ehrgeiz und sein Wille, die gesellschaftlichen Instanzen zu durchlaufen und zum Establishment zu gehören, durchaus schwach ausgebildet. Seine Lebensabschnittsautobiographie "Der Untergang Göttingens und andere Kunststücke in Wrt & Bld" dokumentiert, wie schwer er sich tat, seine "Göttinger Hochschulkarriere" durch den Nachweis zu krönen, dass er selbstständig geforscht habe. Eine Novelle des Niedersächsischen Hochschulgesetzes sowie die Inkorporation der Pädagogischen Hochschule in die Georg-August-Universität machten Anfang der 80er Jahre diesen Nachweis notwendig - für den Akademischen Oberrat Fritz Weigle (alias F. W. Bernstein) auch ein "Problem der Bürokratie":

"Daß ich selbstständig gelehrt habe in den vergangenen zehn Jahren - zu meinen allerersten Dienstpflichten hats gehört! - mußt ich nachweisen und habs wohl auch schon mehr als einmal getan. Auch meine Forscherkarriere muß längst aktenkundig sein, als Fehlanzeige. Meine gelegentlichen Rezensionen und Aufsätze in unserer Fachpresse genügen nie und nimmer den strengen Anforderungen meiner neuen Alma Mater (die ich mir nicht ausgesucht habe. Eine Stiefmutter ists für mich). Ich sein kleines dummes Zeichenlehrer und Kunsterzieher. Ich wollt nie Forscher sein. In meiner Beschränktheit will es mir nicht einmal gelingen, den Sinn solcher langwierigen Erfassung und Qualifizierung meiner Tätigkeitsmerkmale zur Besitzstandswahrung zu begreifen."

Aus seiner Göttinger Zeit und damit einer Hoch-Zeit der Neuen Frankfurter Schule erzählt in Bildern und Texten das reichhaltige Materialienbuch "Der Untergang Göttingens". Es umfasst den Zeitraum 1972 bis 1985; zwei Arbeiten - ein Gedicht Robert Gernhardts und eine Zeichnung F. K. Waechters - erinnern zudem an das Jahr 1966, als Bernstein/Weigle die Redaktion der satirischen Zeitschrift "Pardon" verließ und in den Schuldienst eintrat.

Doch nun Göttingen. F. W. Bernstein inszeniert seinen Blick auf die Stadt wie Saul Steinberg sein berühmtes Titelbild des "New Yorker":

"Die Lotzestraße führt nach Osten gen Sonnenaufgang; geradewegs zum Kiessee, zum Freibad, weiter Richtung Mollenfelde, wo der Kiebitz flattert und flegelt und flügelt, ins Eichsfeld, weiter ins Polnische, da - der Ural! Samarkand. Ulan Bator - doch bevor wir ins Chinesische geraten und in die Innere Mongolei, laßt uns die ersten Blicke tun aus dem Fenster der Lotzestraße 20."

In der Lotzestraße im ersten Stock haben Fritz und Sabine Weigle gewohnt, von hier sind sie ihrer Arbeit nachgegangen, wenn sie nicht gerade im "APEX", der Galerie mit Kneipe in der Burgstraße, gesessen sind, um dort die Gäste zu zeichnen: Wo Albrecht Dürer und Carl Friedrich Gauß täglich verkehrten (auf Zehn-Mark-Scheinen), dort hatte FWB eine Goetheerscheinung, dort traf er Martin Luther und Sigmund Freud, den Genossen Lenin und den Arbeiterführer Karl Marx, den Wolf im Schafspelz und endlich den "Mescalero", der 1977 mit seinem "Nachruf" auf Siegfried Buback die bundesdeutsche Öffentlichkeit empört hatte.

Es ist eine Zeit der politischen Verwerfungen: In einer Chronik der Jahre 1975 und 1976 schildert Grafiker Weigle, wie er mit Illustrationen für eine Fortsetzungsgeschichte im Göttinger Werbe-Magazin "spot" beauftragt wird, diesen Auftrag skrupulös annimmt und sofort in einen Gewissenskonflikt gerät, der sich mehr und mehr zu einem Konflikt mit der von Horkheimer/Adorno so geschmähten "Kulturindustrie" entwickelt:

"Das Funktionieren der Kulturindustrie soll dargetan werden, der Warencharakter von allem Geschriebenen und Gezeichneten, sobald's gedruckt wird - nun ja."

Während unter dem Pseudonym Max Duster bereits Weigles Illustrationen zur "Mister Spot"-Handlung erscheinen, hat ihr Urheber noch Skrupel, ein angemessenes Honorar dafür zu verlangen - und es auch einzutreiben:

"Die Frankfurter Freunde, wie halten die es? Ob sie sich auch realistisch als Warenlieferant sehen oder als Sinnmacher und Gestalter? (Im weiteren Verlauf der Chronik, der hier nicht abgedruckt ist, kommt es zu einer längeren kontroversen Korrespondenz, insbesondere mit Robert Gernhardt, der mein dogmatisches Dozieren gründlich kritisiert.)"

Die Frankfurter Freunde, wie hielten es die? Im Grunde nicht anders als Weigle/Bernstein selbst. Sie sind ihren eigenen Weg gegangen, haben sich nicht beirren lassen, sind heute noch so produktiv wie einst und genießen den späten Ruhm ihrer frühen Jahre. So sind auch F. W. Bernsteins Leben und Werk als Beleg für die These lesbar, dass sich die Vielfalt künstlerischer Individualität nur dadurch erklären lässt, dass Sozialisation im Grunde Selbstsozialisation bedeutet. Sein Opus magnum, "Bernsteins Buch der Zeichnerei" (1989), führt diese Schule des Lebens in Vielfalt optisch-visuell vor, und als Lehrer wird Fritz Weigle nichts anderes getan haben als seine Schüler zur Selbstständigkeit zu ermuntern, zur Einheit in der Vielfalt vielleicht, zur Konsequenz im eigenen Schaffensprozeß, zur konsequenten Ausbildung der eigenen Fähigkeiten, wie sie auch der Göttingen-Band repräsentiert.

Der titelgebende Haupttext, die erste (und einzige?) Szene eines Theaterstücks, reiht sich als gespielte Theaterprobe in die Tradition des metafiktionalen Theaters ein, wie sie durch Shakespeare und Calderon, Ludwig Tieck und Samuel Beckett auch zum Spielplan deutscher Bühnen gehört. Im Untertitel "Ein katastrophales Spektakel" genannt, entwickelt Weigle/Bernsteins Groteske herrlich griffige Figuren und Dialoge, darunter den in die Verzweiflung getriebenen Regisseur und den justament beförderten Ministerialdirektor, finster entschlossen, Göttingen von der Landkarte verschwinden zu lassen. So soll es auch geschehen, es sei denn, dass sich sieben Personen fänden, "die unentbehrlich sind zu Recht / fürs gesamte menschliche Geschlecht."

F. W. Bernstein ist unentbehrlich - und seine sechs Mitstreiter von der Neuen Frankfurter Schule sind es auch. Es gibt vermutlich kein kulturelles Programm für Individualität: Man erwirbt sie sich, indem man den eigenen Präferenzen, dem eigenen Bewusstsein folgt. Sich auf der Spur und nicht auf der Strecke zu bleiben, das eigene Ding durchzuziehen und sich nicht beirren zu lassen, sein ganzes Tun mit höchstem Anspruch an sich selbst zu verbinden - das ist F. W. Bernstein großartig geglückt (und Glück gehört immer auch dazu). Dafür ist er auf Händen zu tragen, weithin sichtbar, auf dass er sich immer leicht auffinden lasse, irgendwo weiter vorn vermutlich, an der Spitze der Bewegung, dort wo Maß und Richtung vorgegeben werden.

Titelbild

F. W. Bernstein: Der Untergang Göttingens und andere Kunststücke in Wrt & Bld.
Herausgegeben von Peter Köhler.
Satzwerk Verlag, Göttingen 2000.
190 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3930333317

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