Der Autor als Held

Rainer Stachs monumentale Teilbiographie "Kafka. Die Jahre der Entscheidungen”

Von Jürgen PelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Pelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich zu Anfang, in einer ausführlichen Einleitung, geht Rainer Stach auf die besonderen Schwierigkeiten ein, denen sich gerade ein Kafka-Biograph gegenübersieht: ein allzu kurzes, leicht überschaubares Leben von knapp 41 Jahren, wenige Reisen, wenige Beziehungen zu Frauen, einige zunächst wenig beachtete Bücher, keine Rolle in der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Was gibt ein solches ereignislos wirkendes Leben her für eine Biographie, die sich ja primär dem Leben einer Person widmet?

Zwar liegen in Kafkas Fall Tausende Seiten von Korrespondenz und Tagebüchern vor, und auch das Umfeld der Literatur und Kultur um die Jahrhundertwende und in Prag ist relativ gut erforscht, dennoch scheint sich Kafka, der Mensch, zu entziehen. Will man wirklich zum verdeckten Reichtum der psychischen Existenz Kafkas vordringen, so kann man nicht bei der ,horizontalen' Dimension seiner sozialen Existenz ansetzen, sondern man muss, so Stach, bei der ,vertikalen' ansetzen, "die mit der sozialen Landschaft scheinbar gar nichts zu tun hat und diese dennoch überall, in jedem Punkt durchdringt". Und nur so lässt sich letztlich auch jenes Ziel erreichen, das sich Stach gestellt hat, nämlich zu erklären, wie "aus einem Bewusstsein, dem alles zu denken gibt, ein Bewusstsein werden konnte, das allen zu denken gab".

Um in das "Innere", "Dunkle", Unterbewusste des Autors hinabzusteigen und die Ursprünge eines unvergleichlichen Werkes auszuloten, sei vor allem "Empathie" erforderlich, Einfühlung in Charakter, Situation und Milieu. Gleichzeitig sei auch Distanz geboten, die Präsentation einer Außenperspektive, Kritik und Reflexion, um vorschneller Identifizierung oder Vereinnahmung vorzubeugen. Und dementsprechend bietet Stach ein breites Arsenal literarischer wie essayistischer Mittel auf, um seinem Gegenstand gerecht zu werden. Das Ergebnis ist ein voluminöser ,Dokumentations- und Reflexionsroman' von mehr als 600 Seiten, der um so monumentaler wirkt, als er sich nur auf einen Teil von Kafkas Leben beschränkt, nämlich die "Jahre der Entscheidungen" zwischen 1910 und 1915. Band III und I sollen folgen.

Die Darstellung verfährt chronologisch, aber nicht linear. Sie setzt bei bestimmten Daten, Aspekten oder Themen an und vergegenwärtigt sie szenisch, wobei Außen- und Innenperspektive gelegentlich regelmäßig wechseln und Kafka mal im Mittelpunkt, mal im Hintergrund steht - ein Verfahren, das an die Schnitttechnik des Films, den Übergang von Totale zum Close-up, erinnert. So liefert der Prolog als szenisches Stimmungsbild die im Frühjahr 1910 mit viel Hype, Aufregung und sogar Weltuntergangsstimmung begleitete Ankunft des Halleyschen Kometen, die aber in Kafkas Freundeskreis kaum auf Interesse stößt. Danach der Wechsel zum Familienalltag Kafkas, den Wohnverhältnissen und seinem eigenen Zimmer, dem "Hauptquartier des Lärms", wie er es in einem Text aus dem Jahr 1911 mit grimmigem Humor beschreibt. Stach nutzt die Gelegenheit, um nicht nur, sozusagen "aus dem Stand", die Beziehungen innerhalb der Familie zu beschreiben, sondern er geht auch ausführlich auf das damals aktuelle Projekt einer Asbestfabrik ein, für das die Familie Kafka einspannen will (was ihn in der Folge fast zum Selbstmord treibt). Weitere Kurzkapitel behandeln die Junggesellen- und Freundschaftskultur, innerhalb derer sich Kafka bewegt, den Kontakt mit zionistischen Schauspielerinnen und Schauspielern, für die sich Kafka mit ungeahnter Energie einsetzt sowie die Ausflüge nach Weimar (zum Goethehaus), Leipzig (zu Rowohlt) und zum Luft- und Licht-Sanatorium "Jungborn" im Sommer 1912.

Wenig später, am Abend des 13.8.1912, kommt es dann zu jenem denkwürdigen Abend, "der das Gesicht der deutschsprachigen, vielleicht der Weltliteratur merklich verändert hat". Er trifft, von Max Brod arrangiert, Felice Bauer aus Berlin, der er im Laufe des Abends das Angebot einer (damals höchst abenteuerlichen) Palästinareise macht. Und gut fünf Wochen später, am 20.9.1912, bringt sich Kafka mit einem Brief in Erinnerung, womit eine der berühmtesten und sicher auch quälendsten Briefwechsel der Weltliteratur ihren Anfang nimmt. Dieser Werbebrief signalisiert vor allem auch Kafkas Bereitschaft, sein Leben zu ändern: Die Zeit der (möglichen) Entscheidungen hat begonnen.

Dieser Korrespondenz zwischen Kafka und Felice Bauer - nur seine Briefe und Karten sind erhalten - ist das Gros der folgenden 500 Seiten gewidmet, wobei Stach geschickt zwischen den Partnern, zwischen Berlin und Prag hin und her wechselt, um so die Dynamik dieses Prozesses, in den ja nach und nach auch die Familien samt Eltern und Geschwistern sowie Freundinnen und Freunde einbezogen sind, zu entfalten. Stach gelingt insbesondere ein Porträt Felices, das - anders als Canettis "Der andere Prozess" und ähnliche Darstellungen - auch ihre Seite psychologisch und historisch einfühlend voll würdigt, wobei auch viele bislang unbekannte Details aus ihrer Familie zur Sprache kommen. Bei Kafka selbst wirkte der erste Werbebrief an Felice wie ein produktiver Schock: Dieser "Übergang von der Phantasie zur Tat" ließ die "eben erst geweckten Hunde endgültig von der Kette" - es kam zur berühmten Niederschrift der Erzählung "Das Urteil" in der Nacht vom 22. auf den 23.9.1912. Auch wenn das Wort 'Durchbruch' vielleicht zu hoch gegriffen ist (zumal ja auch frühere Texte nicht diskutiert werden), Kafka selbst reagierte wochenlang euphorisch darauf, dass ihm hier ein Text gelungen war, dessen "Zweifellosigkeit" sich auch beim wiederholten Lesen und Vorlesen bestätigte. Damit war für ihn ein Standard gegeben, den er auch in den folgenden Texten zu erreichen suchte, wie bei der Bearbeitung des "Heizers", der Fortführung des "Verschollenen", der "Verwandlung" und schließlich dem Anfang des "Prozesses".

Lebenspraktisch gesehen bedeutete dies, dass Kafka, da er sich in seiner Konzentration auf die Literatur bestätigt fühlen konnte, fortan auch die Lebensbedingungen sichern will, die für das Schreiben nötig sind und dazu enorme Energien freisetzt. Kafka also nicht der lebensuntüchtige, entscheidungsschwache Neurotiker, als den ihn immer noch viele sehen, sondern als Schriftsteller, der den höchsten, ihm erreichbaren Standard anpeilt und diesem Ziel sein Leben bewusst und unbeirrbar unterwirft. Und hier ist wohl letztlich auch einer der Hauptgründe für das Scheitern seiner Beziehung zu Felice zu suchen, mit der er sich zwar verlobt und - trotz allem - eine baldige Hochzeit plant, mit der er sich dann aber doch entlobt; später, am Schluss des Buches, kommt es dann wieder zu einer Annäherung. Letztlich waren Literatur und eigenständiges Leben (die geplante Ehe) zwei konkurrierende Befreiungsentwürfe, die sich zusammen nicht realisieren ließen. Der Ausbruch des Krieges im Sommer 1914 macht dann weitere mögliche Entscheidungen (etwa die Kündigung des leidigen Jobs, Wegziehen von Prag) hinfällig.

Hat Stach seine hochgesteckten Ziele erreicht? Vielleicht ist es zu früh, dies abschließend zu entscheiden, zumal ja weitere, sicher ebenso umfangreiche Bände geplant sind, die sich ausgesparten Bereichen - wie der Familiengeschichte, dem soziokultuellen Kontext Prags, Kafkas literarischen Anfängen und Einflüssen, der Kriegserfahrung usw. - widmen werden. Die interessante, eingangs gestellte Wirkungsfrage, wieso Kafkas Bewusstsein "allen zu denken gab", kann Stach, da er sich mit Interpretationen und Textanalysen weitgehend zurückhält, nur zum Teil beantworten. Doch vermittelt Stach sicher ein Gefühl davon, "wie es gewesen ist, Franz Kafka zu sein". Besonders überzeugend wirken auch Stachs Bemerkungen zum literarischen Schaffensprozess Kafkas, zum Problem der "Vernetzung" der Bilder und zur Problematik der Formgebung bzw. den Schwierigkeiten des Weiterschreibens und Abschlusses. Die geforderte Empathie führt in dieser Biographie zu einer literarischen Ausgestaltung, die höchst lesbar, ja packend wirkt, gelegentlich allerdings in Klischees und vermeidbares Pathos abgleitet, wie überhaupt die auf weite Strecken romanhafte Darstellung dazu führt, dass der Autor als auktorialer Erzähler und Kafka als Held auftritt. Doch Stach vereindeutigt letzlich seinen Autor nicht, er vereinnahmt ihn nicht, es bleiben Leerstellen, und auch Paradoxien und Widersprüche werden herausgestellt; zudem sorgen die essayistisch-theoretischen und kulturhistorischen Passagen (z. B. zu Liebe und Sexualität) für das nötige Korrektiv. Auf die weiteren Bände darf man jedenfalls gespannt sein.

Titelbild

Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
672 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3100751140

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