Henker und Philosophen

Paul Scheerbarts altorientalische Novelletten

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Orient - ein Festplatz zügelloser Despoten voll unberechenbarer Launen? Sinnlicher Haremsfrauen, die die Geheimnisse ungeahnter Genüsse kennen? Oder regiert das Fatum, verhängt von Allah oder einem seiner Vorgänger-Götter, das nun jedenfalls verlangt, das Verrottende schicksalsergeben eben verrotten zu lassen? Seit Jahrhunderten ist der Osten Projektionsraum des ökonomisch überlegenen Westens - Projektionsraum, in den geheime Wünsche ebenso verlagert werden wie die Angst vor dem eigenen Untergang; Raum für Ideologisierungen, die heute doch das Wissen von handfesten wirtschaftlichen Interessen ebenso wenig wie die Kenntnis überdecken können, dass noch das scheußlichste arabische Regime seine Macht westlicher Unterstützung verdankt.

Das war noch nicht der Fall, als vor einem Jahrhundert Paul Scheerbart seine Texte über den Orient schrieb. Der Nahe Osten war damals nicht vollends unterworfen, und auch die Geographen hatten noch nicht die letzte Ecke kartographiert. Fehlt das äußere Wissen, so herrschen Projektion und das tradierte Bild erst recht; der Rang eines orientalischen Romans bemisst sich dann um so weniger an seiner Faktentreue als durch den Grad, in dem er derartige Ideen phantasievoll unterläuft und so Wahrnehmungsräume öffnet statt die Ideologie befestigt.

Zu Beginn seiner Karriere produzierte Scheerbart Romane über den Orient der islamischen Zeit - 1992 edierte Mechthild Rausch den "arabischen Haremsroman" "Der Tod der Barmekiden" (1897). Nun liegen, ebenfalls von ihr und in der Reihe der "frühen Texte der Moderne" der edition text + kritik herausgegeben, unter dem Titel "Der alte Orient" "Kulturnovelletten aus Assyrien, Palmyra und Babylon" vor, die Scheerbart viele Jahre später, um 1911, schrieb. Der erste Leseeindruck verweist auf die Macht des Stereotyps: Fünfzehn Jahre Schreiberfahrung machen ebenso wenig einen Unterschied wie die Jahrtausende, die zwischen Nebukadnezar und Harun al Raschid liegen - Despotismus, Harem etc., siehe oben. Akzentuiert ist in den späteren Texten die orientalische Weisheit; zurückgenommen, doch spürbar sind Momente ironischer Distanz.

Das Nachwort Mechthild Rauschs freilich informiert, dass Scheerbart nicht willkürlich das Klischee fortschrieb, sondern recht genau über den zeitgenössischen Stand der Altertumsforschung informiert gewesen sein dürfte. Zudem deckten sich bestimmte mythische Vorstellungen des alten Orients mit Elementen aus Scheerbarts Privatmythologie. Das Hintergrundwissen verschiebt den Eindruck, und ein spezifischer Zugang zu einer längst vergangenen Zeit rückt in den Blick. Die Edition unterstützt das: Die zehn erhaltenen "Novelletten" von den vermutlich zwölf seinerzeit entstandenen sind derart angeordnet, dass sie von fast schon satirisch überspitzter Despotie zu weiser Reflexion über die Vergänglichkeit führen.

Das alles stimmt sachlich - trifft es ästhetisch? Was Rausch als notwendiges Hintergrundwissen zusammengetragen hat, dürfte kaum zum Bildungshintergrund selbst des zeitgenössischen Scheerbart-Lesers gehört haben. Nicht die Novelletten erschließen die Mythologie, sondern man muss die Mythologie kennen, um die Novelletten zu würdigen. Ihr literarischer Wert kann deshalb nicht durch die Autorintention begründet werden. Zu fragen ist vielmehr, inwieweit sie sich solchen Festlegungen zu entziehen vermögen.

Scheerbarts Könige sind Über-Despoten. Ihre Grausamkeit, ihre Kriegslust, ihr Drang sich zu vergöttlichen, ihr herrscherlicher Gestus sind zu viel. Der Pazifist Scheerbart scheint gerade von diesen seiner Erfindungen gefesselt gewesen zu sein; immer wieder treten sie auf und wüten sie. Am Ende der ersten Novellette leuchtet ein Blutstropfen "auf einer dunkelroten Rose, die halb zertreten auf den buntglasierten Fliesen lag" und erinnert daran, dass kurz zuvor Blut "wie eine Fontäne" aus dem Hals eines Geköpften spritzte: In solch einer ästhetizistischen Passage ist verraten, dass Scheerbart auch für die Art von Größe empfänglich war, die er in der gleichen Sammlung unterminierte. In der folgenden Geschichte nämlich zwingen ein Hofnarr und eine Sklavin einen womöglich noch grausameren König, sich nicht für die Witze zu rächen, die über ihn gerissen wurden.

In der "palmyrenischen Fackeltanz-Novellette" von "Leuten, die den Kopf verloren" ist das Köpfen dann vollends ironisiert. Ein vielleicht misogyner Zug liegt darin, dass es die einzige Fürstin der Sammlung ist, die stets dem Henker zuschauen will, obgleich sie kein Blut sehen kann. Da sie vorhersehbar in Ohnmacht fällt, muss man es mit ihren Befehlen nicht zu genau nehmen: Ein verkleidetes Schaf tut es auch, solange nur Blut sprudelt; und später ist die Königin froh, wenn nur der Mensch noch lebt. Milderung? Schwäche? Scheerbart stellt die Episode ans zeitliche Ende des "alten Orients". Der Schlusssatz der Novellette informiert, drei Jahre später sei die Fürstin im Triumphzug durch Rom geführt worden: Gewalt und Hierarchie gehören zur Ordnung, solange sie vital ist.

Scheinbare Ausnahme ist der Philosophenkönig Nabukudu, in gewissem Grade Sprachrohr seines Autors und jedenfalls Kriegen so abgeneigt wie zu prachtvoller Bautätigkeit hingezogen. Der Architekt freilich ist nicht weniger tyrannisch als die Kriegsherren vor ihm, und Scheerbarts Freude an detaillierter Beschreibung der Umgebungen prägt die Novelletten um Nabukudu nicht minder als die anderen Erzählungen. Da, wo der gute Fürst mit seinen Priestern über die Ewigkeit reflektiert, geraten seine Sklaven zum Ambiente und neigen sie dazu, Bestandteil des Ornaments zu sein wie das unbelebte Inventar seiner Paläste.

Scheerbart scheint sich des Zwiespalts bewusst gewesen zu sein. Ein manchmal allzu familiärer Ton untergräbt den philosophischen Ernst, und die Unteren treten zuweilen aus dem Rahmen der Ordnung. Aus dem Kontrast von Philosophie, Ästhetisierung der Macht und burschikoser Brechung ergibt sich der Reiz der Novelletten. Zu Scheerbarts besten Texten gehören sie freilich nicht, andernorts hat er seine Mittel gekonnter eingesetzt. Immerhin sind die zusammengehörigen Texte, unter denen einer seit 1911 nicht mehr publiziert wurde, endlich zum ersten Mal vereint. Neben dem Nachwort sind umfangreiche bibliographische Angaben zu Veröffentlichungen Scheerbarts für die Forschung von Wert.

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Paul Scheerbart: Der alte Orient. Kulturnovelletten aus Assyrien, Palmyra und Babylon.
edition text & kritik, München 1999.
160 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3883775894

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