In einer bedingten Welt ein unbedingtes Wesen

Hugo Wolfs Leben und Werk, erzählerisch vergegenwärtigt von Dietrich Fischer-Dieskau

Von Johannes Cyprian PelzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Cyprian Pelz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eine scheue, krampfige, nervöse Natur [...] hin- und hergeworfen zwischen Inspirationsdürre und Schaffensrausch, [...] mimosenhaft reizempfindlich; [...] ein gebeutelter Außenseiter, [...] kleinwüchsig, selbstherrlich, sperrig, ungebärdig, [...] oft gequält von Selbstekel, unduldsam gegen das Stumpfe und Mittelmäßige, sympathisch in seinem Trotz und Eigensinn; [...] ein begnadeter Deklamierer [...] mit aschblondem, langem Haar und stechendem Blick, einer ans Derbe grenzenden Offenheit und mißtrauischem Wesen, [...] melancholisch, fanatisch wahrheitsliebend, schöpferisch unsicher, [...] rätselvoll anziehend" - schier unerschöpflich scheint der verbale Reichtum, mit dem sich dieser Band dem spinösen und bis heute emarginierten Phänomen Hugo Wolf annähert - als wolle dieses stilistische Ringen um Nuancen dem Komponisten ehrend zurückwidmen, was dieser der Sprache in seiner musikalischen Lyrik-Exegese an Achtsamkeit und Erhellung angedeihen ließ.

Darum hätte der Henschel Verlag besser die gängige leidige Journalisten-Unsitte vermieden, für jedes künstlerische Tun Dietrich Fischer-Dieskaus stereotyp seine Sängerlegende als Fundierung oder Kontrast heranzuzitieren. Fraglos ist er - neben Elisabeth Schwarzkopf, der die Biographie gewidmet ist - sängerisch als der Vermittler des Liedschaffens von Hugo Wolf an die Gegenwart ausgewiesen. Die "bezwingende Diktion" seines Buches aber kann nicht (wie im Klappentext) aus der "praktischen Erfahrung" des Musikers erklärt werden, sondern nur als Synthese von außergewöhnlicher Sprachmächtigkeit und zündend lebendigem Imaginieren. Wollte man denn partout eine Parallele zwischen dem Sänger und dem Autor bemühen, wäre diese auf einer abstrakteren Ebene zu suchen: in der Sensibilität eines Interpreten, der kompositorisch oder historisch Festliegendes - ein Lied oder eben ein Schicksal - wirkmächtig ver-gegenwärtigt.

Fischer-Dieskau schildert Wolfs sich selbst zur Qual gereichende Existenz von einer glücklichen Kindheit und frühen Förderung durch einen musikliebenden Vater (später überschattet von Geldsorgen und Zwistigkeiten in der kinderreichen Familie), über die schulischen Desaster des fügungsunwilligen Autodidakten, der seine Eltern trotzend und bettelnd die Erlaubnis abringt, die Musikerlaufbahn einschlagen zu dürfen; dann über die hinreißende (Tragi-)Komik seiner Initiation zum passionierten Wagnerianer, die Kameradschaft und finanziellen Drangsale eines Lebens in der musikalischen Boheme, die Jahre gegnadeter kompositorischer Fruchtbarkeit und zähen, zermürbenden Kampfes um künstlerische Akzeptanz bis hin zu dem erschütternden Verfall und der Gehirnparalyse des syphilitisch Erkrankten. Die relativ kurzen Kapitel, die durchweg in subtil schlussbildenden Formulierungen oder Szenen enden, fächern diese Chronologie klug ordnend in einzelne Aspekte und meiden jede krampfhafte Aussparung oder Beschönigung (etwa in bezug auf Wolfs Ansteckung oder seinen Antisemitismus), wie sie den Blickwinkel früherer Darstellungen einengen.

Indem Fischer-Dieskau dabei vor allem die historischen Dokumente zur Geltung bringt und sie mit dezenter Einfühlung verbindet, entsteht ein intellektueller Sog, der den Leser nahezu unwiderstehlich dahin führt, in der eigenen Lektüreerfahrung jene Probleme nachzuerleben, mit denen Wolfs manisch-depressive Persönlichkeit seine Zeitgenossen konfrontierte. Man schwankt beständig zwischen Sympathie und Ablehnung, zwischen faszinierter Achtung für das künstlerische Ethos dieses scharfzüngigen, phantasievollen Feuerkopfes und empörtem Widerwillen gegen seine Undankbarkeit, gegen seine - etwa in bezug auf Brahms eklatante - blind überhebliche Aggressivität und krasse Egozentrik. Gleichermaßen erschreckend freilich wirken beide Extreme, zwischen denen Wolf selbst oszillierte: seine schöpferischen Ekstasen, die sich in megalomanen brieflichen Jubel-Eruptionen niederschlagen, und die 'Marasmen' einer suizidnahen Verzweiflung, wenn eine kompositorische Inspiration - in Wolfs eigenen Augen seine einzige Existenzberechtigung - sich nicht einstellen wollte. Dass Fischer-Dieskau diese Zerrissenheit schon von den frühesten Lebensphasen her aufzeigt, erhellt Konstanten in Wolfs Entwicklung, dank deren seine Krankheit nicht (wie misslich in früheren Darstellungen, z. T. aus Th. Manns "Doktor Faustus" zurückprojiziert) als Erklärung für sein Künstlertum tout court herhalten muss, sondern vielmehr als die entscheidende letzte Schwächung erscheint, die den Künstler - wie Fischer-Dieskau Grillparzer zitiert - "im Kampfe gegen seine eigene Natur erliegen" ließ.

Nimmt man hinzu, dass diese Monographie nicht nur ihre Vorläuferwerke teilweise bis ins sprachliche Detail akribisch aufarbeitet, sondern bis heute unbekanntes Quellenmaterial aus dem Nachlass des Produzenten Walter Legge erschließt und darin musikhistorische Grundlagenforschung leistet, hat man in der Verbindung dieser fünf Aspekte: 'Eintreten für einen (abgesehen von den Usancen unserer kulturellen Gedenkjahrindustrie) zu wenig Gewürdigten; stilistische Versatilität; narrative Anschaulichkeit; facettenreiches Psychogramm und fundierte Recherche' - näherungsweise das Desiderat dieses Buches im deutschen Veröffentlichungspanorama umschrieben.

Kritikwürdig erscheint an dem Band vor allem eines: er ist - mit seinen 558 Seiten - zu kurz. Dass die Zweiteilung des Untertitels 'Leben und Werk' mit Blick auf die großen Liedfolgen ernst genommen und deren Besprechung in einem zweiten monographischen Teil ausgelagert wurde, anstatt den Erzählfluß der Lebensschilderung zu hemmen, ist lesepsychologisch glücklich und macht das Buch leichter auch als Nachschlagewerk konsultierbar. Aber die Liedbesprechungen selbst kondensieren dann (vom einem Limit des Werkumfangs diktiert?) kompositionstechnische, musikgeschichtliche und text-exegetische Aspekte, Vorschläge zum sängerischen Vortrag, Rückbindungen an Wolfs Psychologie oder den kulturhistorischen Kontext zumeist in einen oder zwei Absätze. Die wünschenswerte Alternative - das Werk auf zwei Bände anzulegen, dann noch ausführlichere Erläuterungen zu erlauben, sie häufiger mit dem Notenbild zu begleiten und womöglich eine CD beizugeben - wäre allerdings derart kostspielig geworden, dass sie der angezielten breiteren Öffentlichkeit nicht mehr erschwinglich gewesen wäre.

Insgesamt scheint das Buch gegen den behutsamen Pessimismus des Autors angeschrieben, dass die 'Bedeutung von Wolfs Werk bereits wieder aus dem Gedächtnis zu entschwinden' drohe. Demgegenüber mag ein Kritiker (mit einer von Wolfs beliebtesten Mörike-Vertonungen) nur denken: 'Ich habe die Ehre, Ihr Rezensent zu sein! Und wenn etwas - außer sängerischem Einsatz - ein nicht nachlassendes Ringen um Wolfs Oeuvre empfehlen kann, ist es ein solches Buch!' Dann mögen künftige Leser der Biographie jedwedem Rezensenten heimleuchten und ihm helfen, rasch "die Trepp' hinab gehn" ... [Nachspiel!]

Titelbild

Dietrich Fischer-Dieskau: Hugo Wolf. Leben und Werk.
Henschel Verlag, Berlin 2002.
558 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3894874325

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