Ein Leichnam, drei Geheimnisse

Nuruddin Farahs "Geheimnisse"

Von Philipp StrieglerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Striegler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ostafrikanische Somalia kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges. Die Hauptstadt Mogadischu besetzt und terrorisiert von Milizen. Der junge Geschäftsmann Kalaman, Besitzer eines Computerunternehmens, versucht die bedrohliche Entwicklung weitesgehend zu ignorieren, als auf mysteriöse Weise seine Jugendliebe auftaucht, um ein Kind mit ihm zu zeugen.

Die geheimnisvolle Sholoongo, die vor vielen Jahren in die USA emigrierte, bringt Kalamans Welt ins Wanken. Ihr Anliegen lehnt er brüskiert ab, doch in ihm erwachen, äußerst lebendig, fragwürdige Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. Verstört durch die vielen sich aufwerfenden Fragen macht sich Kalaman auf den Weg zu seiner Familie.

Yaqut, sein schweigsamer Vater, seine starke Mutter Damac, sowie Nonno, der wohlhabende, imposante Großvater, drei sehr unterschiedliche, doch allesamt ausgeprägte Charaktere, geraten in den Strudel der eigenen Vergangenheit. Während vieler Gespräche und gemeinsamer Erinnerungen treten Stück für Stück wohlbehütete Geheimnisse zutage, Wahrheiten, die über drei Jahrzehnte vergraben blieben.

Kalaman stößt schließlich auf die schreckliche Geschichte seiner Herkunft und fällt in einen kathartischen Schlaf voller Visionen. Als er erwacht, erwacht in ihm ein neues Selbstbewusstsein, eine neue Identität.

Das Lüften der Geheimnisse bewirkt ein Erstarken der Familienbande, die Befreiung von dunklen Schatten. Im Hintergrund bleibt allerdings Somalia, auf der Schwelle eines sinnlosen Krieges.

Der Roman "Geheimnisse" erschien im Frühjahr 2000 als dritter Teil einer Trilogie, in der Nuruddin Farah den Sturz Somalias ins Chaos des Bürgerkrieges umkreist. Der 1945 geborene vielfache Literaturpreisträger erzählt Geschichten von Menschen, die zwischen einer aufbegehrenden Moderne und den alten Traditionen und Stammesriten nach ihrer Identität suchen.

In "Geheimnisse" wechselt die Perspektive der Erzählung zwischen der Sicht Sholoongos, einer unbeteiligten und immer wieder seiner eigenen. Nahtlos reihen sich Beschreibungen des Augenblicks, mythenhafter Träume und Erinnerungen aneinander, changierend zwischen ,normaler' und ,fabelhafter' Realität. Er nimmt Anteil an der Entwicklung, der langsamen Zusammenfügung von Puzzleteilen, der verborgenen Fragmente der Vergangenheit und Gegenwart, die schließlich Wirklichkeit zeigen. Stück für Stück zieht er, zeitgleich mit den Handelnden, ihre Geheimnisse ans Tageslicht, lernt die Menschen kennen, so wie diese selbst sich kennen lernen.

Nuruddin Farahs "Geheimnisse" verlangt von seinem Leser, sich einzulassen - auf eine fremde Welt, auf eine Gratwanderung zwischen Realität und Mythos, auf die Erfahrung von geheimnisvollen Menschen.

Der Autor führt verschiedene Welten zusammen und verfasst, trotz der Begegnung mit Leid und Tod, eine Hommage an das Leben.

Titelbild

Nuruddin Farah: Geheimnisse. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
398 Seiten,
ISBN-10: 3518411330

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